[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2004/02 | Seite 33
53. Jahrgang | Februar
Oper & Konzert
Vorstoß ins Unerhörte
Das Berliner Festival „UltraSchall“
Die Neue Musik kann sich abstrampeln wie sie will: aus dem Ruch
des Elitären, Verkopften, dem normal Sterblichen Unzugänglichen
kommt sie einfach nicht heraus. Da hilft kein Crossover, keine Minimal
Art und keine Neoromantik. In der bildenden Kunst ist das ganz anders,
stellte Ultra-Schall-Leiter Rainer Pöllmann in der traditionellen
Podiumsdiskussion als These auf. Über Picasso würde niemand
die Nase rümpfen, wohl aber über Stockhausen – oder
wer war das noch gleich? Stehen Aufsichtsratsvorsitzende wenigstens
mit dem Rücken zum modernen Gemälde, um sich als Teilhaber
auch eines allgemeinen Kulturkonsenses davor ablichten zu lassen,
so steht die Neue Musik immer noch und immer wieder mit dem Rücken
zur Wand.
Orchestrierte Videoperformance:
Sasha Waltz choreografiert „Kraanerg“ von Iannis
Xenakis“. Foto: Kai Bienert
Die Suche nach neuen Vermittlungsformen ist also das Gebot der
Stunde, gerade auch dann, wenn ein Festival vom öffentlich-rechtlichen
Rundfunk veranstaltet wird – hier vom DeutschlandRadio Berlin
und vom neu fusionierten Radio Berlin-Brandenburg, über dessen
auf Mainstream getrimmtes Kulturradio schon reichlich geschimpft
wurde. So zeigte sich UltraSchall bei seinem sechsten Durchgang
um diskursive und kommunikative Formen erweitert: statt einer Podiumsdiskussion
nun gleich zwei, Komponistengespräche, eine „Hörspiel-Lounge“
zum Abhängen zu später Stunde einer Galerie gegenüber
der Hauptspielstätte, den trendigen, ebenfalls sonst eher Theater
als Musik bietenden Sophiensälen in Berlin Mitte. Ohnehin gestanden
die Diskutanten diesen Künsten die größere Nähe
zum „richtigen Leben“ zu, der die Musik nachzueifern
habe. Claus Spahn, Musikredakteur der „Zeit“, Gerhart
Baum, Bundesminister a.D. und Beirat für „Musik der Jahrhunderte“
und selbst der Komponist Claus Steffen Mahnkopf fassten dabei allerdings
weniger die gesellschaftliche Relevanz der Werke, als vielmehr die
Fähigkeit auch von Komponisten, sich marktgerecht durchzusetzen,
ins Auge.
Der erwünschten Vernetzung der Künste trug Ultraschall,
ohne den Schwerpunkt auf der „komponierten Musik“ aufzugeben,
mit zwei Musiktheaterprojekten Rechnung: Die „abstrakte Ballettmusik“
„Kraanerg“ von Iannis Xenakis“ (1969) und „Cuerpos
deshabitados“ (2002/03) von José Maria Sánchez-Verdú,
eine von surrealistischer Literatur aus der Zeit nach dem Spanischen
Bürgerkrieg inspirierte Kammeroper. Der Titel von Xenakis’
Auftragswerk für die Tanzcompagnie Roland Petit setzt sich
aus dem französischen crâne (= Hirnschale, Schädel)
und der griechischen Silbe erg zusammen, meint eine Hirnenergie
oder den Zusammenstoß verschiedener Energien. Entsprechend
presst Roland Kluttig seinem Kammerensemble Neue Musik Berlin eine
Blechbläserexplosion nach der anderen ab, gehen grelle, nach
Luft schnappende Repetitionen in lang ausgehaltene düstere
Streicherklänge über. Das stürzt in dumpfes elektronisches
Brodeln ab, Stichwort für die Choreografie von Sasha Waltz:
Panorama-Bildschirme zeigen über freies Feld gehende Menschen,
langsam und stumm sich nähernd und entfernend, sich auflösend
und scharfe Kontur gewinnend, in verschiedenen Perspektiven, manchmal
bis zur Unkenntlichkeit fragmentiert. Wenn hier der Boden ins Schwanken
gerät, bleiche Rahmen die „Fenster“ verschließen,
ist vielleicht heutige Befindlichkeit gemeint; die Aufschreie, der
verzweifelte Trotz dieser „abstrakten Ballettmusik“
werden damit nicht beantwortet.
Wiederaufführungen stehen im Zentrum des UltraSchall-Konzepts,
das Erschließen eines zeitgenössischen Repertoires für
ein breites Publikum jenseits des Uraufführungsbetriebs. Sicher
bietet das Festival damit mehr Bestandsaufnahme als Initiative für
überraschende Entwicklungen, balanciert so zwischen Einschaltquote
und Kulturauftrag. Entdeckungen sind dabei jedoch allemal möglich.
Eine veritable Ausgrabung ist Salvatore Sciarrinos etwa zweistündiges
Orchesterwerk „Sui poemi concentrici“, nach der Uraufführung
1988 nie wieder gespielt. Sein musikalisches Material ist Sciarrinos
Musik für eine 15-stündige Fernsehfassung von Dantes „Divina
Commedia“ entnommen, „aus einem einzigen großen
Atem“ erzeugte winzige Partikel etwa eines klagenden Flötenlauts,
eines zirpenden Celloflageoletts, eines zart knirschenden Bogendrucks.
Dies alles auf dem Hintergrund sanft schreitender, wie im Kaleidoskop
gewürfelter immer gleicher Klänge – Dantes „Sturm
der Worte“ will Sciarrino keinen „Sturm der Töne“
hinzufügen. Eine Illustration von „inferno“ oder
„purgatorio“ sucht man so vergeblich. Das von Peter
Rundel geleitete Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin realisierte diese
Partitur der Andeutungen zusammen mit Solisten vom ensemble recherche
mit traumwandlerischer Sensibilität; das scheinbar immer Gleiche
fügt sich im Lauf der langen Dauer zum meditativen Konzentrat
von frei assoziativer Qualität.
Je älter desto besser, scheint in diesem Jahr die Devise zu
sein. Erstaunlich, welche Frische das Erprobte, durch einen gewissen
Erfolg Bestätigte immer wieder entwickeln kann. Das traf besonders
auf die Experimente der sowjetischen Frühmoderne zu: In der
„langen Nacht des Klaviers“ beeindruckte „Invocation“
(1917) von Nikolai Obouchov mit unendlich wandernden Zwölftonkomplexen
in knapper Gestik und reizvollen Hell-Dunkel-Kontrasten, Ivan Wyschnegradskis
„Dialogue à deux“ und „Intégration“
fasziniert vor allem durch die Farbigkeit der Reibungen und Schwebungen
zweier im Vierteltonabstand gestimmter Klaviere. Was sich daraus
entwickelte, ließ Frank Gutschmidt mit noch seriell bestimmten
Werken von Boulez und Stockhausen erleben – dem Vorurteil
der seriellen Gesichtslosigkeit entgegen von erstaunlicher Individualität.
Während James Dillon mit „The Book of Elements“
(2002) an gewisse Skriabineske Wendungen apart anknüpft, hat
Walter Zimmermanns uraufgeführte „Blaupause“ es
schwer, in minutiöser, doch klanglich karger Splitterkonstruktion
kurz vor zwei Uhr morgens noch Aufmerksamkeit zu erringen. Iannis
Xenakis wiederum blieb es vorbehalten, mit „Evryali“
eine plastische, mit heftigen Rhythmen packende Klangsprache zu
bezeugen.
Xenakis’ Werke ziehen sich wie ein roter Faden durch das
Programm. Hier ist ein Komponist (wieder) zu entdecken, dessen mathematisch
fundierte Kompositionstechniken erstaunliche Emotionalität,
Klangsinnlichkeit und ein reiches Netz gedanklicher, auch außermusikalischer
Bezüge bergen. „Nuits“ für zwölf gemischte
Stimmen etwa, gesungen von der Schola Heidelberg, ist ebenso rein
phonetische, mikrotonal aufgespaltene Struktur wie in zahllosen
Glissando-Klagen und rhythmische gerasterten Rufen Protest gegen
die griechische Obristenherrschaft der 60er-Jahre. Xenakis fungiert
bei UltraSchall zudem als „Ahnvater“ der heutigen französischen
Musikszene, ist in seinen Auswirkungen auf die „Spektralisten“
Grisey und Murail bis hin zu den jüngeren Aktivisten Jean-Luc
Hervé und Alain Gaussin wahrzunehmen. Ebenfalls umfangreich
präsentiert sind diesmal bei UltraSchall die Österreicherin
Olga Neuwirth und die Israelin Chaya Czernowin, die sich in ihrem
Streichquartett von 1995 zumindest durch geschickte Handhabung von
Geräuscheffekten und ihre Verknüpfung zu erstaunlich sprachähnlichen
Gebilden hervortat. Ein wirklich großer Wurf war aber bisher
bei den neueren Werken noch nicht auszumachen, nicht einmal die
Uraufführung von „The Great Divide“ des Schlagzeugers
Chris Cutler, dessen alle nur denkbaren Differenzierungen enthaltenden
Klangspektren – vom Akustik-sound über Scratch-Effekte
bis auf das Trommelfell prasselnde blaue Perlenschnüre –
den eigentlichen UltraSchall-Vorstoß ins Undogmatische, Unerhörte
hatten erhoffen lassen. Vielleicht sollten die Programmmacher demnächst
noch etwas genauer auf „gesellschaftliche Relevanz“
hin auswählen – ein Komponist wie Xenakis bietet sie
im Übermaß.