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nmz-archiv
nmz 2004/02 | Seite 45-46
53. Jahrgang | Februar
Dossier: Fort- und Weiterbildung
Weiterbildung in Musik – eine Ermutigung
Lebenslanges Lernen in der Transformationsgesellschaft ·
Von Franz Niermann
Die Praxis der Weiterbildung macht Mut. Je weniger wir die Lehrgänge
und Seminare als Nachhilfekurse betrachten und je mehr und entschiedener
wir die Idee des Sich-weiter-Bildens als Arbeitsgrundlage etablieren,
desto stärker fühlen wir die Impulse und erkennen die
Möglichkeiten, kraftvolle und dynamische Konzepte zu entwickeln
und entsprechende Lern- und Entwicklungsprozesse zu initiieren und
zu begleiten.
Dieser Ansatz, Weiterbildung als reflexiven (“sich bilden”)
und im Wesentlichen auf Selbststeuerung ausgerichteten Prozess zu
betrachten, markiert die eine Ebene der Ermutigung. Die andere geht
vom Blick aufs Ganze der Musiklehrerbildung aus, die keineswegs
mit dem Studienabschluss zu Ende ist und dann allenfalls der punktuellen
Nachschulung bedürfte, sondern die sinnvollerweise als unabschließbarer,
in verschiedenen Phasen sich vollziehender Prozess zu betrachten
ist. Die Zurückweisung der schon immer realitätsfremden
Aufgabe, im Studium dauerhaft funktionstüchtige Lehrer “aus”zubilden,
wirkt befreiend und führt wie selbstverständlich zur Verantwortung
für die Vernetzung aller Phasen der Lehrerbildung bis in die
Gesamtzeit der beruflichen Tätigkeit hinein. Sie, diese Verantwortung,
impliziert die immer neu zu stellenden Fragen danach, welche Angebote
der Unterstützung und Begleitung des lebenslangen Lernens der
Lehrerinnen und Lehrer angemessen und effektiv sind.
Transformationsgesellschaft
Als Lehrende an Universitäten und Schulen sind wir Teilnehmer
und Mitgestalter eines gesellschaftlichen und kulturellen Wandlungsprozesses,
der in der Geschichte seinesgleichen sucht. Wenn wir uns bemühen,
Lehrpläne und Studienpläne zeitgemäß zu konzipieren,
wenn wir heute mit dem Blick auf die Zukunft die Fragen nach angemessenen
Inhalten und Methoden zu beantworten suchen, bleibt stets das Gefühl,
dass wir weder „die Realität”, auf die wir uns
beziehen, – zum Beispiel „die Schule” –
gut genug erfassen können noch dass wir über die nächste
Zukunft ausreichend klare Vorstellungen haben. Wir geraten im Fluss
der Veränderungen immer wieder in unerwartete Strudel und dieses
Bild vom Fluss erscheint uns überhaupt zunehmend unpassend.
Es ist so, als ob die Art und Weise, wie sich die Institutionen
und Strukturen verändern, in denen wir uns bewegen, unberechenbarer
und schwerer kalkulierbar geworden ist. Es ist so anders geworden,
wie es anders wird.
Das radikal Neue ist wohl das, was häufig mit „Wandel
des Wandels” benannt wird, und bedeutet, dass es nicht reicht
und letztlich in die Irre führt, immer mehr, immer Neues und
immer schneller hinzuzulernen und sich so auf immer schneller sich
verändernde Lebens- und Berufssituationen einzustellen, sondern
dass es unumgänglich ist, sich mit dem Thema der Veränderung
selbst zu befassen. Dies betrifft praktisch alle gesellschaftlichen
Bereiche. So gilt auch in denjenigen Institutionen, die sich explizit
der Bildung widmen, dass die Beteiligten sich auf die Maxime der
Veränderung selber einlassen müssen – und damit
auf einen manchmal schwierigen und irritierenden Prozess, der ganz
eigene Methoden und Fähigkeiten braucht. Viele Praktiker und
Autoren gehen der Frage nach, welches der Brennpunkt dieser notwendig
neuen Lernformen und -strukturen ist, und sie stellen zumeist den
Gedanken des Rückbezugs oder der Reflexivität1 oder der
Selbstreferenzialität in den Mittelpunkt, der zu einer sozusagen
zirkelhaften dynamischen Vorwärtsentwicklung führt.
Von dieser Dynamik wird weiter unten die Rede sein. Zunächst
sei Ortfried Schäffter zitiert, der den Zusammenhang von „Transformationsgesellschaft”
und notwendiger „reflexiver Lernorganisation” gut beschrieben
hat.
„Das Neuartige der ,Transformationsgesellschaft‘ besteht
(...) darin, dass sich heute auch der Charakter von Wandlungsprozessen
verändert; es lässt sich daher von einer ‚Veränderung
der Veränderung‘, also von ,Veränderungen zweiter
Ordnung’, sprechen. Dies klingt so kompliziert und schwierig,
wie es in seinen Auswirkungen auch als verwirrend erlebt wird. Gleichzeitig
ist diese zunächst noch abstrakte Einsicht von hohem bildungspraktischen
Nutzen. Mit ihr lässt sich berücksichtigen, dass man es
seit einiger Zeit mit neuartigen ‚Transformationsmustern‘
zu tun bekommt, die als gesellschaftliche Kontextbedingungen für
lebensbegleitendes Lernen wirksam sind und auf die mit reflexiver
Lernorganisation geantwortet werden muss.”2
Von diesen grundlegenden Wandlungen ist ganz essentiell die Frage
nach der Berufsorientierung von Studien und anderen Ausbildungsstrukturen
betroffen. Zunächst einmal scheint auf der Hand zu liegen,
dass Ausbildungen und universitäre Studien sich in produktiver
Spannung zu den tatsächlichen Berufsfeldern zu bewähren
haben. Berufspraktische Erfahrungen gehören als Gegenstand
des Lernens, als Basis der Aneignung von Wissen und Fähigkeiten,
als Erfahrungsgrund, als Anlass und Kriterium der Bildung zu welchem
Studium auch immer. Andererseits sind Berufe in ihrer herkömmlichen
Form und in ihrer identitätsstiftenden Bedeutung im Umbruch,
wenn nicht gar im Schwinden begriffen. Wird es Berufe im traditionellen
Sinne in der Zukunft noch geben? Führen die Notwendigkeit der
Flexibilität und Mobilität in vielfachem Sinne nicht eher
in wechselnde Arbeitszusammenhänge, in welchen ganz andere
Qualifikationen gefordert sind als in den bisher klar definierten
Berufen? Vieles scheint für diese Tendenz zu sprechen. Hier
liegt der Grund, warum Begriffe wie Weiterbildung, lebenslanges
Lernen oder Lifelong Development so große, zukunftsgerichtete
Bedeutung haben. Sie entsprechen der unausweichlichen Aufgabe, in
der Bildung neue Wege aufzutun.
Bildungspolitik der EU
Die Bildungspolitik der Europäischen Union hat seit ihren
Anfängen im Jahr 1971 und dem ersten Aktionsprogramm im Jahre
1976 verschiedene Initiativen gesetzt: in Pilotprojekten und Studien
für den Bereich der Schule, in der Intensivierung der Zusammenarbeit
zwischen den einzelnen Bildungssystemen, durch die Verbesserung
der Bedingungen für Mobilität und gegenseitiges Verständnis,
durch die Entwicklung von Querverbindungen zwischen den Einrichtungen
der tertiären Ausbildungssysteme, durch den Schwerpunkt des
Erwerbs von Fremdsprachen und schließlich durch verschiedene
Weiterbildungsprogramme.3 Man erkennt bereits hier, in der Bedeutung
des letzten Punktes im Gesamtkontext der EU-Bildungspolitik, die
neue und große Bedeutung der Weiterbildung für die Zukunft
des Lebens in Europa. Beim genaueren Hinschauen stößt
man immer wieder auf den Doppelbegriff der „Aus- und Weiterbildung”
und sieht ganz deutlich die zunehmende Relevanz des Entwicklungsgedankens
auch in der Bildung.4
Verunsicherungen
Die Notwendigkeit, Aus- und Weiterbildung wirklich als Eines zu
begreifen und dabei praktisch angemessen auf den Charakter der Transformationsgesellschaft,
auf den Wandel des Wandels und auf das daraus resultierende Postulat
der Gestaltung reflexiver Lernorganisation zu reagieren, führt
zunächst einmal zur Verunsicherung. Dies prägt auch und
ganz spezifisch die Fragen zur Bedeutung der Musik und des Musikmachens
für die Menschen heute und morgen. Herkömmliche Maximen
und Konzepte für die Ausbildung von Musikern und Musiklehrern
werden in Frage gestellt, die Kluft zwischen der Selbstverständlichkeit
der medialen Allgegenwart der Musik und des gigantischen Musikkonsums
der meisten Menschen auf der einen Seite und den grundlegenden Irritationen
auf der andern scheint immer größer zu werden –
Irritationen bei all jenen, die für das Musik-Lernen im allgemein
bildenden Unterricht der Schule oder im Instrumentalunterricht an
Musikschulen Verantwortung tragen.
Eine Ermutigung
„Für die ästhetischen Fächer in der allgemein
bildenden Schule, insbesondere für das Fach Musik, wird die
gegenwärtige Situation als äußerst kritisch eingeschätzt.
Einerseits können wir eine zunehmende Ästhetisierung unserer
sozialen, technischen und ökonomischen Umwelt feststellen.
Darunter verstehe ich Produkte und Prozesse, die sich instrumenteller
Rationalität und praktischer Vernunft verdanken und durch wahrnehmungsorientierte
und wahrnehmungsdominierte Symbole respektive Symbolsysteme präsentiert,
das heißt: gegenwärtig gemacht, werden. Andererseits
aber scheinen jene institutionalisierten Lernfelder, die sich von
ihrer Aufgabendefinition her jenen Prozessen zuwenden sollen, extrem
verunsichert und gefährdet zu sein.“5 Dementsprechend
unsicher, – weil die Veränderungen der Zukunft gerade
auch in Fragen der ästhetischen Bildungspraxis nicht vorhersehbar
sind – , werden statt „solider“, also langfristig
gültiger und allgemein verbindlicher Konzepte für den
Musikunterricht und die Musiklehrerbildung eher nur Anregungen und
Ideen vorgetragen, etwa „Bruchstücke zur Frage, ob und
inwieweit sich die Musiklehrerausbildung zu ändern habe“6.
Es scheint so, als ob wir in dieser Hinsicht erst wieder relativ
sichereren Boden unter den Füßen haben werden, wenn wir
aufhören so zu tun, als könnten wir jetzt wissen oder
herausfinden, was die Studierenden für ihren Lehrberuf in der
Zukunft alles wissen und können müssten, – wenn
wir uns diesen Problemen aus der Sicht des größeren,
dynamisch sich verändernden Lebenszusammenhanges und im Kontext
des lebenslangen Lernens nähern.
Was für die Musiklehrerbildung auf der Hand liegt, ist mutatis
mutandis auch für die Ausbildung der professionellen Musiker
erkennbar: von den zum Teil dramatischen Veränderungen im Kunst-
und Konzertbetrieb, von den grundlegenden Wandlungen des Berufsmusikerbildes,
vom Funktionswandel oder gar Zusammenbrechen der großen, etablierten
Berufsorchester, vom großen Gewicht der Medien und der multimedialen
Kultur… – von all diesen relativ neuen Umwälzungen
gehen für die Musiker große Verunsicherungen aus.
Sie können nicht auf die einmal erfahrene künstlerische
Ausbildung vertrauen, sondern sie müssen fähig sein, immer
neue Wege für sich und ihre professionelle Arbeit zu finden.
Reflexive Lernorganisation
Für das, was hier in abstrakter Formulierung reflexive Lernorganisation
genannt wird, sind auf institutioneller, struktureller, methodischer
und kommunikativer Ebene die entsprechenden Formen zu entwickeln.
Konkret hängt das von den Menschen und Inhalten ab, die in
einem Lernkontext zusammen kommen.
Im Folgenden gehe ich von einem Beispiel aus, das veranschaulichen
mag, welche Elemente es sein können, die möglicherweise
die reflexive Qualität des Sich-weiter-Bildens im Unterschied
zum linearen Schulungskurs ausmachen. Der Bezugspunkt ist hier der
Universitätslehrgang „Berufsbegleitende Weiterbildung
Musikpädagogik” am Wiener Institut für Musikpädagogik.7
Wie weit die hier skizzierten Elemente auch in anderen Kontexten
eine tragende Rolle spielen können, zum Beispiel im Rahmen
des Studiums, muss an dieser Stelle offen bleiben.
Vernetzung
Eine wichtige Voraussetzung für den hier beschriebenen Ansatz
zur musikpädagogischen Aus- und Weiterbildung ist, wie eingangs
bereits angedeutet, der Blick aufs Ganze der Musiklehrerbildung,
in dem etwa das Studium, die Unterrichtspraktika (und das Referendariat),
die ersten Lernjahre des Lehrers sowie Wandlungen oder Brüche
in der späteren beruflichen Entwicklung als Phasen eines Gesamtprozesses
gesehen werden, der immer ein individueller ist. Dies führt
perspektivisch unter anderem zu umwälzenden Konsequenzen sowohl
für die Studienpläne als auch für die Lehrerfortbildungskonzepte.
Eine besonders schöne und konstruktive Form, in der sich der
Blick aufs Ganze spiegelt, ist die Vernetzung der Phasen durch die
(stets punktuelle) Zusammenführung der Beteiligten in Lehrveranstaltungen,
Seminaren und Projekten. Studierende lernen von Lehrer-Anfängern,
die um Alltagsbewältigung und Selbstbewusstsein ringen, oder
von Berufserfahrenen, die „neuen Wind“ für ihre
Art des Lehrer-Seins wünschen; diese wiederum greifen Impulse
von den vielleicht frischeren und unkonventionellen Studierenden
auf. Da solche gemeinsame Arbeit von Grund auf die Frage nach der
eigenen Position und Entwicklung berührt, bietet diese Form
bereits per se konstruktive Impulse für die eigene Weiterbildung.
Das Schwungrad
Der entscheidende Ansatzpunkt für das Lernen und Sich-weiter-Entwickeln
ist die Reflexivität als Prozess-Motor: die Vergewisserung
und Anerkennung eines momentanen „bestimmungsbedürftigen“
Zustandes als eines Ausgangspunkts für ressourcenorientiertes
Arbeiten. Wie sehe ich meine augenblickliche Situation? In welchem
Punkt drängt es mich weiter? Wo setze ich an? Dies sind die
wichtigsten Fragen zum In-Gang-Setzen eines persönlichen Entwicklungsprozesses.
Im Unterschied zum linearen Lernkonzept sehen wir in der Konstruktion
der „reflexiven Transformation“8 Kreise oder Zirkel
oder Spiralen mit drei Segmenten:
Die Situationsklärung und Selbstvergewisserung, verbunden
mit der Formulierung eines konkreten „Anliegens“9,
ein Praxis- und Erfahrungsfeld, in dem Beobachtung und Feedback
eine große Rolle spielen10, und
die Reflexion und Auswertung – und damit die Gewinnung
eines weiteren Ausgangspunktes.
In diese Spirale oder Lernschleife, die wie ein Schwungrad für
eine dynamische Entwicklung sorgt, kann man sich immer wieder hineinbegeben
und Erfahrungen auf der sachlichen, persönlichen, kommunikativen
und allen möglichen weiteren Ebenen machen. Da das Schwungrad
in allen Segmenten von der Reflexivität angetrieben wird, reagiert
es auch auf die Veränderungen, die der Entwicklungsprozess
mit sich bringt, so sehr sie, die Veränderungen selber, sich
auch wandeln.
Arbeitsebenen
Mit dem Schwungrad sind auf ganz abstraktem Niveau Grundstrukturen
der Weiterbildung benannt, die auf verschiedenste Weise konkretisiert
werden können.11 Auf jeden Fall bedingt und bewirkt es Konsequenzen,
die sich von Weiterbildungskonzepten im Sinne etwa der Nachschulung
grundsätzlich unterscheiden:
Für die Rollenverteilung von Lehrgangsleiterin und Teilnehmer
wird die Struktur „Jemand lernt etwas, was der andere bereits
kann“, aufgehoben zugunsten der Selbststeuerung der Teilnehmerin,
für die der Lehrgangsleiter Impuls, Hilfestellung und Begleitung
anbietet.
Der Teilnehmer findet seinen eigenen Weg und sein eigenes Tempo.
Zum eigenen Weg gehören auch die individuellen Themen,
die sich aus den Anliegen als Ausgangspunkten ergeben. Darin können
– implizit oder explizit – auch diejenigen Parameter
einbezogen werden, welche die Bedingungen oder Störungen
der eigenen Entwicklungsmöglichkeiten geprägt haben,
wie die eigene Schulzeit, die religiöse Sozialisation, das
geschlechtliche Selbstbewusstsein oder die kulturelle Prägung
im interkulturellen Umfeld.12
Die Hineinnahme der Außensicht durch die anderen Teilnehmer/-innen
und durch den Leiter in allen Arbeitsschritten, vor allem aber
durch die gezielte Praxisbeobachtung (entsprechend dem gewählten
Anliegen) und durch das Feedbackverfahren bewirkt eine Öffnung
für ungewohnte Entwicklungswege und das Außerkraftsetzen
sich im Kreis drehender Verhaltensmuster.
Die Verfahren der Evaluation wirken – im Unterschied
zu manchen Tendenzen der Evaluation zur Dauerkontrolle aller durch
alle – stärkend und vorwärts weisend.13
Sonderfall Musikalische Bildung
Wenn wir über den „Wandel des Wandels“ in unserer
Gesellschaft nachdenken und von dort aus die Notwendigkeit erkennen,
im Lernen und Sich-weiter-Bilden von linearen Formen weg zu kommen
hin zu reflexiven, zirkulären Prozessen, finden wir unterstützende
Vorbilder in der Kunsterfahrung. Die neuere Geschichte der Kunst
und im Besonderen der Musik hat uns bereits vor etlichen Jahrzehnten
eindrucksvoll einen ungeheuer vielschichtigen und widerspruchsvollen
Weg gezeigt: weg vom linearen hin zum offenen und reflexiven Denken,
im Bereich der Musik zum Beispiel beim Komponieren, Musizieren und
in den Anforderungen an den Hörer. Die Komponist-Interpret-Hörer-Beziehung
hatte sich radikal verändert; dies zeigte sich vor allem in
der Öffnung oder gar Negierung des Werkbegriffs und generell
in der Infragestellung gesicherter Bezugssysteme in der Kunst.
Die Wahrnehmung der Musik durch den Hörer – auch des
Musikers als eines Hörers – war zu einem zentralen Thema
des Komponierens geworden. Im Extrem war es die auskomponierte Stille,
die einem das zirkelhafte und reflexive Hören nahe legte: Was
klingt noch nach von dem, was vorher war? Was höre ich jetzt,
in der unabsehbaren Pause oder Stille? Was wird kommen? Wohin geht
die Entwicklung dieser „meiner Musik“ und was bedeutet
sie mir? Der Komponist und der Musiker, die Experten, übergeben
mir die Regie für mein Hören, für „meine Musik“
– die von ihnen an mich herangetragen wird. Und die von mir
vor allem dies verlangt: Rückbezugs-, also Reflexionsfähigkeit
und das immer erneute Infragestellen des jeweiligen Ergebnisses
des Spielens und Hörens. Wenn die Kunsterfahrung uns solche
Vorbilder anbietet, sind wir dann nicht in diesem Sinne generell
gut beraten, „auf die Musik zu hören“? Sind wir
Musiker und Musikvermittler vielleicht in besonderer Weise aufgerufen,
sozusagen mit der „vordenkenden“ Kunsterfahrung als
Rückenstärkung stets zeitgemäße Wege des Lebenslangen
Lernens auszuloten und zu erproben?
Das schulische Fach Musik, das zu den Strukturen des Schulsystems
immer in einem verqueren Verhältnis stand, ist ganz sicher
in einer ganz besonderen Notlage und hat gleichzeitig die besondere
Chance, Wege des Lernens und Sich-Bildens zu entwickeln, die der
heutigen Situation der „Transformationsgesellschaft“
besser als bisher entsprechen. Mag sein, dass dann angemessene Formen
der Weiterbildung das Schulfach Musik – und natürlich
genauso alle anderen Fächer – in stärkerem Maße
umwälzen, als dies aus dem Rahmen des alltäglichen Unterrichts
heraus möglich ist. Eine ermutigende Perspektive.
Franz Niermann
Der Text ist dem Buch „Musiklernen - ein Leben lang. Materialien
zu Weiterbildung/Lifelong Development“, Wien 2004, (Hg): Franz
Niermann/Constanze Wimmer, entnommen. Der Nachdruck findet mit freundlicher
Genehmigung der Universal Edition statt.
Anmerkungen
1 Zur grundsätzlichen Frage der Reflexivität im Kontext
der gegenwärtigen gesellschaft- lichen Entwicklung: vgl.
Beck u.a. 1996, darin vor allem den Aufsatz „Reflexivität
und ihre Doppelungen: Struktur, Ästhetik und Ge- meinschaft”
von Scott Lash, S. 195.
2 Schäffter 1998, S. 12. Vgl. auch: ders. 2001.
3 Vgl. Wittib 1995, S. 8 f.
4 Vgl. auch die im Anhang des vorliegenden Buches beigefügte
Auswahl von Veröffent-lichungen zum Thema.
5 Kaiser 1999, S. 5.
6 Bäßler 1998, S. 22–31.
7 Vgl. Niermann 2003, S. 7.
8 Vgl. Schäffter 1998.
9 Vgl. hierzu die Anregungen in Schulz von Thun 1996.
10 Vgl. Niermann/Stöger: 2002, S. 10 f.
11 Eine Form der Konkretisierung prägt ganz explizit das
Modell „accompagnato – Brü-cken zwischen Studium
und Beruf des Mu- siklehrers”, das seit etlichen Jahren
an der Musikuniversität Wien realisiert und nun auch in der
Musiklehrerbildung in Umeå (Schweden), Hannover (Deutschland),
Ljubljana (Slowenien) und Basel (Schweiz) adaptiert wird. Vgl.
hierzu den Beitrag im vorliegenden Buch: Brigitte Lion u.a.: „Die
Kompetenzen für den Musiklehrberuf entwickeln.“ Ferner:
Stöger (Internet) sowie: Etzold 2002, S. 56.
12 Vgl. hierzu entsprechende Beiträge im vorliegenden Buch,
z. B. zur Religion, zur schulischen Motivationsbeeinflussung,
zu Gender, Adoleszenz, Interkulturalität usw.
13 Zum Thema Evaluation und Musikpädago- gik vgl. Heft 16
(2002) der Zsft Diskussion Musikpädagogik (Lugert Verlag)
„Evaluation – Feedback – Reflexion”.