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nmz-archiv
nmz 2004/02 | Seite 3
53. Jahrgang | Februar
Feature
Ernste Musik in der Spaßgesellschaft
Gedanken zum Europäischen Komponistengespräch 2003 in
Berlin · Von Albrecht Dümling
In Berlin kamen in den letzten Monaten neue Zeitschriften auf
den Markt mit Namen wie „Parzival“, „Zoo“,
„Monopol“, „Dummy“, „Deutsch“,
„Achtung“ und „Voss“. Man reibt sich die
Augen, klagt die Medienbranche doch überall über mangelnden
Absatz, über einen Rückgang der lebenswichtigen Anzeigen,
über die schlimmste Zeitungskrise seit Jahrzehnten. Die Frankfurter
Allgemeine Zeitung musste ihr Kunstdruckmagazin „Bilder und
Zeiten“ sowie ihre Berliner Seiten einstellen, die Süddeutsche
Zeitung ihr Jugendmagazin „jetzt“ sowie ebenfalls ihre
Berliner Seite. In einer solchen Situation muss man schon sehr wagemutig
sein, um gerade jetzt neue Zeitschriften zu gründen. Brauchen
die Leser neue Blätter? Was suchen sie dort, was ihnen die
bisherigen nicht boten?
Leere Säle klingen
schlecht. Das wusste nicht nur Arnold Schönberg.
Foto: Archiv
Die Blattmacher versprechen, Marktlücken zu füllen. Angesichts
der Größe unserer Bahnhofskioske, angesichts der jetzt
schon unübersehbaren Fülle von Printmedien fragt man sich
allerdings, ob überhaupt noch Lücken existieren. Aber
die neuen Blattmacher, meist Aussteiger aus großen Verlagshäusern,
haben diese offenbar gefunden. So soll der in Potsdam erscheinende
„Parzival“, geschaffen vom ehemaligen Chefredakteur
der Tageszeitung „Die Welt“, eine Mischung der amerikanischen
Intellektuellenblätter „Atlantic Monthly“ und „New
Yorker Magazine“ sein und sich an eine politisch interessierte
Bildungselite richten. „Dummy“, geschaffen von ehemaligen
Mitarbeitern der Süddeutschen Zeitung, will Leute erreichen,
die sowohl einen Sinn für opulente Optik haben als auch die
Muße, längere Texte zu lesen. „Monopol“,
ein Produkt des ehemaligen FAZ-Redakteurs Florian Illies (bekannt
durch seinen Bestseller „Generation Golf“), richtet
sich an eine junge Generation von Kunstliebhabern: Leute, die etwa
in Banken und Unternehmen arbeiten und intelligente Unterhaltung
schätzen. Die Medienkrise zwingt zu neuen Ideen, zu größerer
Flexibilität, zu mehr Mut zum Risiko. Wir wissen nicht, ob
unser Konzept funktioniert, heißt es. Aber wir machen lieber
den Crash-Test als den Copy-Test.
Was hat das alles mit Neuer Musik zu tun? Auch diese durchlebt
gegenwärtig eine Krise. Schon längst weiß sie nicht
mehr, ob sie das Adjektiv neu klein oder emphatisch mit Großbuchstaben
schreiben soll. (Offenbar war sich nicht einmal Theodor W. Adorno
in dieser Frage sicher.) Ist nicht das Neue voraussehbar geworden?
So sprach mein Kollege Hans-Klaus Jungheinrich kürzlich vom
Donaueschingen-Sound, als reagiere auch bei diesem Festival Altgewohntes.
Sind die neuen Musikwerke wirklich neuartig und originell oder doch
nicht allenfalls nur aktuell und zeitgenössisch? Vermitteln
sie Neuigkeiten, die das Publikum interessieren? Und tun sie das
in einer Sprache, die verständlich ist? Immer häufiger
geben in Berlin einzelne Konzertbesucher zu erkennen, dass sie Neues
nicht brauchen und nicht wollen. Sie tun das nicht wie noch zu den
heroischen Zeiten der Wiener Avantgarde mit einem lautstarken Skandal,
sondern durch stillen Exodus. Noch während der Aufführung
etwa eines Stückes von Wolfgang Rihm verlassen sie lautlos
die Philharmonie. Oder sie kommen überhaupt erst in den Saal,
wenn das ungeliebte Programmsegment bereits verklungen ist. Schließlich
kämen sie auch zu Hause vor ihrem Radioapparat nicht auf die
Idee, sich so dissonante Klänge anzuhören; sie schalten
dort schon nach den ersten Takten ab. Sogar die öffentlich-rechtlichen
Rundfunkanstalten, die sich in ihrer Orientierung an Einschaltquoten
immer mehr den Privatsendern annähern, nehmen diesen verbreiteten
Unwillen zur Kenntnis. Fast sklavisch folgen sie der Ausschaltquote
und reduzieren die Sendezeiten für Neue Musik oder verbannen
sie in die Nachtstunden. Dies ist Zensur, aber legitimiert durch
die Mehrheitsmeinung.
Immer mehr muss der Komponist den Eindruck gewinnen, dass das
Musikpublikum ihn nicht braucht, dass es das Neue nicht will, sondern
lieber die Wiederholung des Bewährten: Mozart statt Rihm, Brahms
statt Cage. Auch die Veranstalter sind angesichts der Engpässe
in den Kulturhaushalten auf volle Säle angewiesen. Wie können
sie weiter motiviert werden, Zusatzkosten wie Notenmaterial, Sonderinstrumente,
Extraproben und GEMA-Gebühren aufzubringen, die Aufführungen
neuer Werke erfordern, wenn das Publikum ausbleibt? Bislang hob
es das Ansehen eines Hauses, wenn es sich im zeitgenössischen
Bereich engagierte. Aber die Kritiker, die bislang solches Intendantenlob
spendeten, sterben aus oder sie bekommen immer weniger Platz für
ihre Texte. Grundsätzliche Reflektionen sind in den üblichen
Kurzkritiken kaum noch möglich. Es wurde bislang zu wenig beachtet,
dass mit der Krise des deutschen Feuilletons, seiner von den Verlegern
gewünschten Tendenz zu Lifestyle und Entertainment auch eine
der Säulen wegfällt, auf denen die Neue Musik bislang
ruhte. Immer weniger wird es so zum guten Ton gehören, über
neueste Musikentwicklungen informiert zu sein. Nachrichten über
das Filmfestival von Cannes, über die Qualität der neuen
Weinjahrgänge, über den neuen Harry-Potter-Roman, über
eine neue Talkshow oder eine aktuelle Pop-CD scheinen von weitaus
höherer Relevanz als die jüngsten Entwicklungen in Witten,
Darmstadt oder Donaueschingen, wo ohnehin jüngst Alterungs-
und Sklerotisierungstendenzen festgestellt wurden. Im Bewusstsein
der öffentlichen Meinung findet die Neue Musik in einer Nische
statt, die immer kleiner und immer uninteressanter wird. Geradezu
winzig ist die Zahl derer, die sich diesem offenbar unaufhaltsamen
Trend entgegenstellen.
Integration in den Konzertsaal
Es gibt verschiedene Strategien, mit dieser Existenzkrise der
Neuen Musik umzugehen. Die eine durchbricht sehr bewusst das Getto
der Avantgarde und bemüht sich um Integration des Neuen ins
breite Musikleben. Rihm erklingt dann neben dem Brahms-Requiem,
Ligeti neben einer Bruckner-Symphonie und Stockhausen neben Beethoven.
In den von Dieter Rexroth entworfenen Programmen des Deutschen Sinfonieorchesters
Berlin oder des Jugendorchesterfestivals Young Euro Classic funktioniert
das oft erstaunlich gut. Das eine beleuchtet das andere. Man kann
aber als Veranstalter auch die Programme gleich von gefährlichen
Dissonanzen reinigen und dem aktuellen Interesse an Mittelalter,
Mönchsgesängen und Mystik entgegenkommen. Wer neue Musik
auf Arvo Pärt, Sofia Gubaidulina, Henryk Gorecki und Guiya
Kantcheli beschränkt, braucht keine leeren Säle zu riskieren.
In Berlin bemühen sich Simon Rattle und die Berliner Philharmoniker
um ein junges Publikum, indem sie bevorzugt polystilistische Werke
etwa von Mark-Anthony Turnage oder Heiner Goebbels aufführen,
die vertraute und zugängliche Jazz- und Rockelemente integrieren.
Der akustischen Dimension allein wird dabei aber offenbar nicht
genügend Attraktivität zugetraut. So konnte man jüngst
Surrogate Cities von Heiner Goebbels in einer Philharmonie erleben,
die wie bei einem Popkonzert in psychedelisches Licht getaucht war.
Verdrängen solche Visionen das eigentliche Musikerlebnis? Ist
es ein legitimes Experiment oder unzulässiges Schielen nach
den Erfolgsmustern der Spaßgesellschaft? Soll die E-Musik
überhaupt von der U-Musik lernen? Oder begibt sie sich damit
auf ein Terrain, wo sie ohnehin nicht mithalten kann? Auch in der
Musik gibt es inzwischen – wie beim Film – Location-Scouts,
die immer neue Aufführungsorte suchen, ein leeres Wasserwerk
etwa, eine alte Fabrik oder einen attraktiven, sonst schwer zugänglichen
Neubau. Das Publikum kommt. Wegen des Ortes, wegen des Events oder
wirklich wegen der Musik? Ist das Event die notwendige Vorstufe,
um die heutige Jugend zur Musikliebe hinzuführen und neue Appetite
zu stimulieren? Kann man die Methoden der Spaßgesellschaft
nutzen, um zum Ausstieg aus dieser zu bewegen? (Schon Brecht hatte
bekanntlich das Theater durch Elemente aus Jahrmarkt und Boxkampf
beleben wollen.)
Avantgarde als bewusste Gegenwelt
Dem eben beschriebenen Populismus steht die bewusste Gettoisierung
gegenüber, gekoppelt mit einem elitären Avantgarde-Anspruch.
Das Berliner Ultraschall-Festival verlässt die großen
Säle, begnügt sich erfolgreich mit der Intimität
der Sophiensäle. Die Neue Musik als Minderheitenprogramm. Das
neu erwachte Interesse für Theodor W. Adorno scheint dafür
zu sprechen, dass sich wieder eine neue Elitekultur der Massenkultur
widersetzt. Bruchlos scheint aber auch dieses Modell nicht zu funktionieren,
wie der zwiespältige Erfolg der neuen Version der Berliner
Festwochen zeigt. André Hebbelink hatte sich bewusst von
der übergreifenden Themenorientierung der zuvor von Ulrich
Eckhardt geleiteten Festwochen absetzen wollen. Ein solches Konzept
sei, wie er meinte, einer Zeit der Polyzentrik und Polystilistik
nicht mehr angemessen. Aber mit seinem Versuch, gezielt die verschiedenen
Minderheiten anzusprechen, erlitt er im ersten Jahr Schiffbruch.
Nicht einmal die Minderheiten nahmen noch wahr, dass überhaupt
Festwochen stattfanden. Auch das Getto braucht eine gewisse Öffentlichkeit.
Zur Ästhetik der absoluten Musik gehörte die Vorstellung,
dass der Komponist nur für sich selbst komponiert, unbekümmert
darum, ob sein Werk jemals aufgeführt und verstanden wird.
Arnold Schönberg gab an, er brauche Publikum nur deshalb, weil
leere Säle schlecht klingen. Obwohl eine solche arrogante Haltung
Desinteresse an der Gesellschaft demonstriert, basiert sie doch
auf einem hohen Selbstbewusstsein über die gesellschaftliche
Notwendigkeit der Kunst. Diese Notwendigkeit ist in der heutigen
Postmoderne, die den Fortschrittsgedanken in Frage stellt, keineswegs
mehr selbstverständlich. Der Schatz vergangener Werke sowie
von Werken aus anderen Kulturen ist so groß und unübersehbar,
dass selbst hier für ein Publikum, das nicht ohnehin die Wiederholung
des Vertrauten liebt, permanente Neuentdeckungen möglich sind.
Wer kennt schon alle Werke der schwedischen Symphoniker, wer alle
Streichquartette Juan Crisóstomo Arriagas? Der heutige Komponist
steht im Wettbewerb mit allen seinen Kollegen der Vergangenheit.
Er muss sich vor der Geschichte legitimieren. Er muss sich aber
auch fragen, was er als Angehöriger einer bedrohten Minderheit
der gewaltigen Übermacht der U-Musik entgegensetzen kann. Diese
Übermacht ist eine ästhetische, ökonomische und soziale.
Man muss deshalb wieder die Frage stellen, die der Publizist Hansjörg
Pauli um 1970 mehreren E-Musik-Komponisten stellte: Für wen
komponieren Sie eigentlich? Die Frage nach Zielgruppen ist notwendig,
nicht anders als bei den zu Beginn erwähnten Zeitschriftenprojekten.
Die Ernsten Komponisten müssen registrieren, dass ihre Existenz
bedroht ist, dass sie nicht als weltfremde Träumer einfach
nur weiterwursteln können. Fragen müssen gestellt werden.
Aber die Antworten werden wohl anders ausfallen als noch vor 30
Jahren.