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nmz 2004/02 | Seite 23
53. Jahrgang | Februar
Forum Musikpädagogik

Das Andere muss das Allgemeine werden

Noch einmal vom Problem der „Interkulturalität in der Musikpädagogik”· Von Bernd Clausen

Auf der nördlichsten Insel des japanischen Archipels, Hokkaido, lebt eine geringe Anzahl eines Volkes, das sich selbst „Ainu“ nennt. Von den Japanern seit der Meji Restauration im 19. Jahrhundert planmäßig assimiliert, wurden die Ainu 1984 zum „national treasure“ erklärt. Zu spät meinen viele, denn die genuine Kultur der Ainu sei völlig in der japanischen aufgegangen und nur schwer zu erkennen, was ainu, was japanisch sei. Als Nicht-Japaner von den japanischen Regierungen unbeachtet und sozial geächtet kam es 1997 zum Gesetz der Förderung und Verbreitung der Kultur der Ainu, das auch der ethnischen Diskriminierung ein Ende setzen sollte.

Während meines knapp fünfjährigen Aufenthalts in Hokkaido erwarb ich zufällig ein „tuki“; eine lackierte Schale mit dazugehörigem Untersatz und Libationsstab. Es wurde mir nach meiner Rückkehr Anregung zum erneuten Nachdenken über das so genannte „Interkulturelle“ in der Musikpädagogik.

Alle drei Gegenstände sind vermutlich vor etwa 100 Jahren hergestellt worden. Allerdings nicht von Ainu, sondern von Japanern. Über den Handel erreichten viele solcher Lackwaren die ainuische Kultur, die als Kostbarkeiten im Haushalt aufgehoben oder bei festlichen Anlässen ausgestellt wurden. Doch das vorliegende Set wurde nicht als Exponat deponiert, sondern eingebunden in das rituelle Leben der Ainu: Als Trankopfer wurde aus der Schale mit dem Libationsstab Alkohol versprengt, um den Geist – meistens den eines Tieres – in die Welt der Götter heim zu senden.

Damit weiß ich zwar über den Gebrauch des Libationssets im Allgemeinen etwas, über „mein“ Set und seine Besitzer jedoch gar nichts, nur dass es an einem entscheidenden Ort den Eigentümer wechselte: Der Gebrauch als Trinkgefäß für höher stehende Personen in seiner Ursprungskultur Japan veränderte sich zu einem Trankopfergeschirr. Zudem trägt es, und das ist entscheidend, zwei Signaturen: Zum einen das Wappen der japanischen Familie und zum anderen das eingeritzte Symbol des Ainu-Besitzers. Schale und Untersatz haben im täglichen Umgang von einer kulturellen Umgebung in eine andere gewechselt.

Wenn der Gegenstand einer Kultur in einer anderen Platz findet, verändert er nicht selten die Funktion. Seiner intendierten Aufgabe wird mühelos eine weitere hinzugefügt. Es gibt viele Beispiele für diese Umformung, nicht nur im gegenständlichen Bereich.

Wenn Gegenständliches und Nicht-Gegenständliches scheinbar mühelos zwischen Menschen und ihren Kulturen hin- und herwandern kann (übrigens auch im Abendland), warum bedienen wir Europäer uns dann zur Beschreibung einer offenbaren Selbstverständlichkeit des Begriffes der „Interkulturalität“?

Wolfgang Welsch, Professor für Philosophie an der Universität Jena, weist in einem Artikel mit dem Titel „Netzdesign der Kulturen“, erschienen 2002 in der „Zeitschrift für KulturAustausch“ auf einen entscheidenden Aspekt des Interkulturellen hin. Interkulturalität gehe von einem Herder’schen Kulturkonzept aus, bei dem die Kulturen als autonome Inseln oder Kugeln verstanden würden, die sich durch Sprache und Territorium voneinander abgrenzten. Das Konzept von der Interkulturalität sei bestrebt, die zwangsläufig entstehenden interkulturellen Konflikte dadurch zu lösen, dass es Verständnis und Austausch befördere. Die Herder’schen Kugeln – bleibt man in diesem Bild – könnten sich tatsächlich nur voneinander abstoßen, nicht dagegen überschneiden. Daher versuche das Konzept der Interkulturalität, Gemeinsamkeiten oder Konstanten zu finden, um so ein gegenseitiges Verstehen zu ermöglichen. Doch Welsch kritisiert dieses Kulturkonzept, denn es versäume, „die Wurzel des Problems anzugehen. Es ist nicht radikal genug, sondern bloß kosmetisch.“1 Ähnliches treffe auch für das Konzept von der Multikulturalität zu. Beide Konzepte gingen von einer falschen Voraussetzung, einem falschen Standpunkt aus. Gerade die Neuzeit sei durch Pluralität möglicher Identitäten und Verflechtungen gekennzeichnet, weise Konturen auf, die cum grano salis grenzüberschreitend angelegt sind. Kulturen seien daher miteinander verflochten, die Vorstellung von autonomen Inseln sei obsolet. Diesem Zustand würde eher das Konzept der „Transkulturalität“ gerecht werden, das ausgeht von der Pluralität der Lebensformen im Inneren wie im Verhältnis zum Außen.

Übertragen wir das auf unser Beispiel, dann wäre aus heutiger Perspektive betrachtet die Metamorphose eines japanischen Trinkgeschirrs in ein ainuisches Trankopfergeschirr eher als Anzeichen für einen transkulturellen, denn für einen interkulturellen Prozess zu deuten.
Die Antwort auf die Frage, warum kulturelle Dynamiken plötzlich Vokabeln benötigen, ist banal und hat seine Ursachen in einem veränderten Verständnis von dem, was erstmals Pufendorf als „Kultur“ bezeichnete.

Bereits seit einigen Jahrzehnten prägen Vokabeln wie „Interkulturalität“ und „Multikulturalität“ die allgemeine Pädagogik und andere Disziplinen. Schon sehr bald griff auch die Musikpädagogik darauf zurück, um auf Veränderungen innerhalb der Schule und des Unterrichts zu reagieren. Für die 80er-Jahre ist hier die Musikeinheit „Türkische Musik“ von Irmgard Merkt zu nennen.2 Eingeleitet durch die Scheinfrage nach dem Unterschied zwischen dem Fremden und dem Eigenen wendet sich der Diskurs in den 90er-Jahren den eher humanistischen Idealen der Toleranz, Erziehung zum Antirassismus und dem sozialen Lernen zu. Interkulturelle Musikerziehung beschränkt sich nun nicht nur auf Schulklassen mit Ausländeranteil, sondern wird allgemein formulierter Ansatz. Reinhard Böhle und seine „Interkulturelle Musikdidaktik“ (1996) mag hier als herausragendes Beispiel genannt sein. Es war Irmgard Merkt, die den so genannten „Schnittstellenansatz“ formulierte, der bis heute die Didaktik bestimmt. Sie geht davon aus, dass beim praktischen Musizieren Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten zwischen „der anderen“ Musik und „meiner“ Musik zu finden seien, wobei das Suchen nach gemeinsamen Schnittstellen dem Erkennen von Unterschieden unbedingt vorauszugehen habe. Volker Schütz hat diesen Ansatz für die Rock-/Popmusikdidaktik modifiziert und richtungsweisende Studien zur Afrikanischen Musik veröffentlicht.

Alle Konzepte interkultureller Erziehung und darauf aufbauend interkultureller Musikerziehung sind als Reaktion auf eine dramatisch sich verändernde Welt, eine sich verändernde Schule zu verstehen. Der Schnittstellenansatz der Musikpädagogik korrespondiert dabei mit dem Konzept der Interkulturalität, wie Welsch es skizzierte: Das Entdecken von Gemeinsamkeiten soll Verständnis zwischen den autonomen kulturellen Einheiten fördern.

Was Welsch hier propagiert, ist nicht nur eine andere Vokabel, sondern vor allem ein neues Kulturverständnis, vor dessen Hintergrund die Musikpädagogik ihr Tun reflektieren, mit anderen Worten, eine transkulturelle Verfassung zur Grundlage des Denkens und Tuns nehmen sollte. Ich hatte bereits in meiner Dissertation3 den leichtfertigen Umgang mit der Vokabel „Interkulturalität“ innerhalb der Musikpädagogik kritisiert, dort aus einer etwas anderen Perspektive und vor dem Hintergrund des Umgangs mit anderen Musiken in der Vergangenheit.
Die Aporie, in die mein damaliger Denkansatz hineinführte, ließe sich umgehen, indem der Lehrende wie der Lernende die Standortgebundenheit, aber auch den transkulturellen Zustand seiner Umgebung bewusst zum Ausgang seiner Bemühungen nehmen würde.

Es geht mir nicht allein um die Ersetzung eines Begriffes durch einen neuen, sondern um einen gedanklichen Perspektivwechsel, der auch unmittelbar in die Ausbildung hineinwirkt. Eine Studienrichtung „(Interkulturelle) Musikpädagogik“ muss sich im Curriculum den veränderten Bedingungen reflektierend und durchaus kritisch anpassen. Es muss klar sein, dass die Musikethnologie seit Hornbostel und Abraham stets am Ringen war, fremde Phänomene in eine verständliche Form zu gießen. Nichts anderes versucht die Musikpädagogik heute zu tun. Der Unterschied freilich besteht darin, dass wir uns in der Lage befinden, die ethnozentristische Sicht vergangener Zeiten zu reflektieren und so ein Bewusstsein für den eigenen Standort zu schaffen. Nicht zuletzt hier zeigt sich die enge Verbundenheit zwischen Musikethnologie und Musikpädagogik, die beide auf unterschiedliche Weise versuchen, zwischen Musik und Mensch zu vermitteln. Praktisch bedeutet das für die Musikpädagogik eine unbedingte Gleichstellung musikethnologischer wie historisch musikwissenschaftlicher Anteile in der Lehrerausbildung. Gemäß der Prämisse der Transkulturalität sollten die Verknüpfungen zur historischen Musikologie verstärkt werden, denn die transkulturelle Verfasstheit der abendländischen Musikkulturen muss transparent gemacht werden.

  • Dazu gehört eine offenere Auswahl in der Instrumentalausbildung der zukünftigen Lehrer, die nicht beschränkt bleibt auf westeuropäische Instrumente ebenso wie ein selbstverständlicher Umgang mit anderen Tonsystemen.
  • Dazu gehört das Schaffen von Erfahrungsräumen im Studium wie etwa Exkursionen, innerhalb derer andere Musiken ausprobiert werden können genauso wie die verfügbaren Repräsentanten anderer Musiken einzuladen und kennen zu lernen.
  • Dazu gehört das Kennenlernen der Geschichte sowie der wissenschaftlichen Methoden der Musikethnologie, insbesondere der Feldforschung, da nur hier die Schwierigkeiten bei der Beschreibung und Erschließung von musikalischen Gegebenheiten erfahren werden können.

Gegen die Beliebigkeit, vor allem aber gegen eine mögliche Uniformität in einem alles verschlingenden Globalisierungsprozess setzt das transkulturelle Konzept einen wichtigen Akzent durch die Binnendifferenzierung innerhalb eines transkulturellen Bewusstseins, denn auch wenn alle Musiken theoretisch und praktisch erfahrbar sind, so ist die Auswahl doch individuell unterschiedlich und differenziert.

Andere Musiken dürfen nicht auf ihre Verwertbarkeit im Unterricht hin ausgesucht werden, wie es zum Teil in der gegenwärtigen Situation geschieht, sondern die Wahl geschieht allein aufgrund einer individuellen Neugier. Rezepte für den Umgang mit nicht-europäischer Musik gibt es nicht, vor allem nicht für uns, die mit den Symbolsystemen anderer Kulturen wenig bis gar nicht vertraut sind. Da liegt auch der Mangel Schütz’scher Konzepte, dass sie nämlich auf andere Musikkulturen als die afrikanische nur schwer übertragbar sind.

Musikpädagogik muss erkennen, dass die abendländische Musik, ihr Tonsystem, ihre Notation sowie die Instrumente nur eine Form musikalischen Ausdrucks darstellen, die – übrigens schon seit mehreren tausend Jahren – transkulturell war und ist. Andere Musiken müssen im Unterricht nicht das Besondere sondern das Allgemeine sein.

Anmerkungen
1 (2001) Welsch, Wolfgang: Netzdesign der Kulturen; http://www.ifa.de/zfk/themen/02_1_islam/dwelsch.htm.
2 (1985) Merkt, Irmgard: Türkische Musik. Arbeitsheft für den Musikunterricht mit Musikkassette. Stuttgart.
3 (2003) Clausen, Bernd: Das Fremde als Grenze, Augsburg.

 

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