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nmz-archiv
nmz 2004/02 | Seite 29
53. Jahrgang | Februar
Jeunesses Musicales Deutschland
Erweiterung des musikalischen Horizontes
Jeunesse Moderne – Akademie für zeitgenössische
Kammermusik
Hoch im alten Schloss, hinter der rauen Muschelkalkfassade sitzen
sie wie Verschwörer im Kreis, die geöffneten Fenster lassen
den Blick schweifen über alte Schindeldächer auf Türme
und Mauern des Städtchens, das im Glanz der Nachmittagssonne
zu dösen scheint. Da – nach kurzer, fast murmelnder Beratung
in einem merkwürdigen Kauderwelsch aus Französisch, Englisch
und Deutsch – da heben sie wieder an, schrill setzt Alvaro
den Akzent auf seiner Geige, behände lässt Harald seine
Bratsche eine gewundene Passage hochklettern, dann mit großem
Nachdruck zwei bellende Akkorde im ganzen Quartett. Die Dächer
draußen ducken sich noch mehr. „Arret, arret!“,
unterbricht Henry Fourès das Geschehen. Auf den Notenständern
liegt ein kalligrafisches Manuskript: „11 inventions“
hat Philippe Fénelon seine Stücke genannt. Nr. 7 –
nur 1 Seite kurz – entziffern die Verschwörer. „Lasst
uns überlegen. Invention, das heißt: ‚Einfall‘.
Was fällt dem hier eigentlich ein? Was fällt uns ein?“,
fragt der Direktor des staatlichen Conservatoire de Lyon, selbst
Komponist. „Ein Schrei, ein Ruf, gemeinsam, wonach?“,
schlägt Marie Louise vor. „Der zweite Akkord vollendet
die Geste“, stellt sich heraus. Hier ähnelt eine andere
Stelle dem Motiv, hier noch eine. „Jedes Mal verändert
sich das Rufen – spielt es so!“ Plötzlich lebt
die Musik auf, spricht, insistiert, bäumt sich auf, ruft, schreit
und verzagt. Jede Gestalt wird nun feiner, verständlicher,
jedes Zusammenspiel bekommt seinen Sinn. Unmerklich haben sich die
Fensterflügel weiter geöffnet. Dächer, Türme
und Mauern horchen auf die neuen Lebenszeichen aus dem alten Schloss.
So geht es zu auf Schloss Weikersheim im August, wenn dort Jeunesse
Moderne beherbergt wird. Jeunesse Moderne, jährlich veranstaltet
von Jeunesses Musicales Deutschland in Kooperation mit dem Conservatoire
National Supérieur Musique et Danse de Lyon, ist eine Akademie
für zeitgenössische Kammermusik, die nun – im Wechsel
mit Lyon – zum zweiten Mal in Weikersheim im beschaulichen
Taubertal erklang.
Der Kurs richtet sich an junge Musiker aus Frankreich, Deutschland,
Österreich und der Schweiz, die Erfahrung mit zeitgenössischer
Musik sammeln und neue Klangwelten entdecken wollen. In diesem Jahr
wurde der Kreis der Musiker um Studierende aus Polen erweitert und
das Kauderwelsch um eine weitere Sprache gesteigert.
War am Anfang noch eine gewisse Scheu zu verzeichnen – sowohl
im Umgang mit der für manche sehr neuen Musik als auch in der
Kommunikation untereinander – , so legte sich das spätestens
nach den ersten multinationalen Arbeitsphasen. Kickerturniere beim
fröhlichen Zusammensein im Schlosskeller taten ihr Übriges.
Die thematische Grundlage der Akademie bildeten zeitgenössische
kammermusikalische Werke, die die Dozenten, in den meisten Fällen
selbst Komponisten, den Studenten unmittelbar vermitteln konnten.
Drei junge Komponisten erweiterten das Repertoire mit eigens für
diesen Kurs in Auftrag gegebenen Werken: Aleksander Kosciow aus
Polen, Benjamin Schweitzer aus Deutschland und Daniel d´Adamo
aus Frankreich leiteten die Uraufführung ihrer Werke im Rahmen
der Abschlusskonzerte auf Schloss Weikersheim. Ein weiterer Konzertabend
beendete die gelungene Kursarbeit im Orff-Zentrum in München.
Instrumentalworkshops und Höranalysen ergänzten die
Erarbeitung des Repertoires und – natürlich und nicht
zu vergessen – die tägliche Improvisation.
Auch im nächsten Jahr wird Jeunesse Moderne, – dann
in Frankreich mit Portugal als Gast – , neue spannende Anregungen
und Erweiterungen des musikalischen Horizontes bieten.
Ein leises rhythmisches Schluchzen der Bassklarinette bricht die
konzentrierte Stille, jemand versetzt die Saiten des Flügels
in eine sachte wallende Reibung, ein Glucksen der B-Klarinette bringt
Tonfarbenpunkte, sondert ein kleines Motiv ab, noch verharren die
Streicher in erwartungsvoller Spannung, doch bald werden Cello,
Geige und Bratsche sich am Wechselspiel von Motivik, Rhythmus und
Klangflächen beteiligen. „Hört aufeinander, mit
wem kommuniziert ihr gerade, greift jemand deinen Einfall auf und
macht was draus? Oder kannst du selbst eine Struktur bilden?“
Jean-Marc Foltz versetzt seine Improvisationsklasse an diesem Morgen
in Schwingungen. Die barocken Deckenfresken im Gärtnerhaus
von Schloss Weikersheim lassen einen entfernten, klassisch im Stuckrahmen
geordneten Himmel über dem grenzenlosen Experiment Neue Musik
schweben. „Du kannst die Klang- und Formenwelt zeitgenössischer
Musik einfach besser – oder überhaupt erst – begreifen,
wenn du mit deinem Instrument einen im Innersten empfundenen Ausdruck
hinbekommst“, begründet Foltz, warum auf dem dicht gedrängten
Stundenplan von „Jeunesse Moderne“ am Morgen die Gruppenimprovisation
steht. „In diesem intensiven Dialog mit deinen Mitspielern
bekommst du auch einen Begriff, was überhaupt Kammermusik ist,
ja was überhaupt Musik sein kann.“
Hier also – im Hineinhorchen in sich selbst und im sensiblen
Dialog – entsteht sie, die wahre Aktualität zeitgenössischer
Musik.