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nmz-archiv
nmz 2004/02 | Seite 36
53. Jahrgang | Februar
Jazz, Rock, Pop
Soul aus Lyon und Swing aus Tokyo
Das Berliner Jazzfest mit neuem künstlerischen Konzept
Kein Reinheitsgebot für den Jazz hatte Peter Schulze versprochen,
als er im Sommer 2003 das Programm für das erste Jazzfest Berlin
unter seiner Leitung vorstellte. Im Vordergrund standen unterhaltsame
Jazz-Spielarten europäisch-folkloristischer Prägung und
japanisch-exotischen Zuschnitts.
Intensiv, spritzig, modern,
originell, mit Tiefgang: Musik von Louis Sclavis und seinem
Quartett. Foto: Archiv
Von knapp 30 Ensembles waren gerade noch acht aus den Vereinigten
Staaten. Während der Franzose Louis Sclavis mit einer fulminanten
Neuauflage seiner „folklore imaginaire“ bestach (sein
neuer Sänger, Keyboarder und Trompeter, Médéric
Collignon, ist eine Entdeckung!), konnte man am Tag eins des Festivals
mittels der „chansons imaginaire“ von Miharu Koshi einen
Blick durch die japanische Brille aufs Alte Europa und das französische
Chanson werfen. Ein Eröffnungsabend als Varietenummer also.
Ohne Avancen an den Zeitgeist vertrat David „Fathead“
Newman und sein Quintett die Tradition im Festivalprogramm. Jazz
alter Schule wurde da von einem siebzigjährigen Saxophonisten
geboten, mit einem warmen Ton und einer Spielkultur, wie sie vielen
Jungstars abgeht. Eine antike Hammond B-3, die zunächst als
scheinbar nutzloses Requisit auf der Festspielhausbühne stand,
entpuppte sich später als „Arbeitsplatz“ für
Dr. Lonnie Smith, den Special Guest des Abends.
Der Doktor war sozusagen schon im Haus, da er im Rahmen des Jazzfestes
den Samstagabend im Quasimodo gestaltete, gemeinsam mit dem legendären
Altsaxophonisten Hank Crawford, der auch nach seinem Schlaganfall
vor zwei Jahren seinen einzigartigen Ton nicht verloren hat. Dass
der Ton die Musik macht, bewies Dr. Smith dann mit launigen Einführungen
in die Jazzgeschichte samt Hörbeispielen an seiner Hammond-Orgel.
Mit wenigen Anschlägen führte er den Beweis, dass akrobatisches
Outside-Spiel zu nichts führt, wenn die Musik nicht „vom
Herzen“ kommt. Wie recht er damit hatte, war am selben Abend
im Haus der Berliner Festspiele zu hören gewesen. Ballin’
the Jack ist eine angesagte Kultband aus der New Yorker Knitting
Factory. Mit viel Drive und Virtuosität belebt sie das Two-Beat-Spiel
und den Swing eines Benny Goodman oder des frühen Duke Ellington.
Doch bei aller zeitgenössischen Rasanz, die Vorstellung ließ
genau das vermissen, was Dr. Smith als unabdingbar gefordert hatte:
das nötige Quantum Soul eben. Interessanterweise kamen die
jüngeren Zuhörer nicht zu DJ Spooky oder noJazz in den
Tränenpalast, sondern ins Konzert des Klarinettisten und Literaten
Gilad Atzmon, der mit seiner israelisch-palästinensischen Musikmelange,
gespickt mit Agit-Prop gegen die Bush-Blair-Sharon-Achse („die
Achse des Bösen“, Originalton Atzmon), aber auch mit
launigen Anmoderationen fesseln konnte.
Höhepunkt des Jazzfestes war ein Nachmittagskonzert im Konzertsaal
der UDK Berlin. Dem Duo Hans Reichel (Saxophon) und Rüdiger
Carl (Klarinette, Akkordeon) gelang es mit wienerischem Charme und
unkonventionellen Klangcollagen, den voll besetzten Konzertsaal
der UDK, in dem sicher schon manches Routinerepertoire erklungen
ist, zu überraschen und zu faszinieren. Im Anschluss: die Verleihung
des Deutschen Jazzpreises der Union Deutscher Jazzmusiker (UDJ)
und der GEMA Stiftung an Ulrike Haage. Sie ist die erste Frau, die
den von der GEMA-Stiftung mit 10.000 Euro ausgestatteten Albert-Mangelsdorff-Preis
(Deutscher Jazzpreis) entgegennimmt – und die jüngste
Preisträgerin dazu. Bisherige Preisträger waren Alexander
von Schlippenbach (1994), Peter Kowald (1996), Ernst Ludwig Petrowsky
(1997), Heinz Sauer (1999) und Wolfgang Schlüter (2001). Ulrike
Haage ist in der Vergangenheit weniger als virtuose Jazzpianistin,
sondern als Grenzgängerin der Musik hervorgetreten. Sie war
Mitbegründerin der legendären Frauen-Big Band „Reichlich
weiblich“ und Keyboarderin der Popgruppe Rainbirds. Ihr Talent
und ihre Experimentierfreude als Improvisatorin und Komponistin
stellte sie unter anderem in der Zusammenarbeit mit Alfred Harth,
FM Einheit oder Phil Minton unter Beweis.
Den Abschluss dieses Konzertnachmittags, der in seiner kammermusikalischen
Art ein Einzelstück blieb, machten Akkordeonspieler Guy Klucevsek
und Saxophonist Phillip Johnston. Das Duo spann feine Fäden
zwischen improvisierter und ernster Musik. Es war ein Vergnügen,
zwei Musiker zu hören, die – das ist selten genug –
von beidem Ahnung hatten.