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nmz-archiv
nmz 2004/02 | Seite 16
53. Jahrgang | Februar
Portrait
Mit dem Instrument in der Hand
Aus einem Sozialprojekt in Caracas zu den Philharmonikern nach
Berlin: Edicson Ruiz
Einzug der Philharmoniker. Einspielen. In der ersten Reihe der
Kontrabassisten, zweiter Platz: das Rekordkind des Klangkörpers:
Edicson Ruiz, jüngstes Mitglied seit Orchestergründung
1862. Er ist 18, gewann die Bass-Vakanz aber schon als 17-Jähriger,
konnte jedoch als Unmündiger den Arbeitsvertrag nicht unterschreiben,
musste warten bis zur Volljährigkeit. Einmalig nicht nur sein
Alter, auch seine Herkunft. Gebürtig aus Venezuela ist er der
erste Lateinamerikaner im Orchester. Vom Zuschauerraum aus betrachtet
fallen diese Unterschiede zu den Kollegen nicht auf. Er wirkt dann
älter und der schmale Körperbau, die helle Haut, das dunkle
Haar scheinen sowieso europäisch.
Edicson Ruiz
Bis Edicson Ruiz nach Berlin kam, lebte er in Venezuelas Hauptstadt
Caracas. Einer Stadt mit allen Attributen unterentwickelter Länder,
aber auf einem Gebiet hoch entwickelt: der musikalischen Förderung
von sozial gefährdeten Kindern. Edicson gehörte dazu:
„Mit acht Jahren wurde ich aufsässig, richtig aggressiv.
Schrie meine Mutter an, schlug sie.“ Schwer vorstellbar; wenn
er heute von ihr spricht, dann mit Zärtlichkeit. „Ich
hab einen einzigen Traum, sie glücklich zu wissen.“
Die Alleinerziehende vertrieb Ingredenzien für Bäckereien,
von früh bis spät, zu Fuß in der Millionenstadt.
Ihr Kind konnte sie nicht noch mitschleppen. Sie verlor die Arbeit,
als Edicson zehn war, fand keine neue Anstellung, entschloss sich,
Taxi zu fahren. „In Caracas, wo nachts regelmäßig
15 bis 20 Taxifahrer umgebracht werden. Aber wir mussten essen.“
Zwar besuchte Edicson längst die Schule, gehörte zu den
Klassenbesten, aber nachmittags lag er weiterhin auf der Straße.
„Da lernt man schlechte Sachen, Grobheiten, Drogen, Alkohol,
Prostitution.“ Eine Nachbarin wusste von einem Sozialprojekt
zur „Wiedergewinnung und Eingliederung der verlorenen Jugend“.
„Wo Kinder mittels Musik erzogen werden. Mich hat die Musik
gerettet.“
Der 18-Jährige teilt sein Leben in Perioden ein: „Mit
der Musik begann die zweite.“ Dabei hatte er nicht Lust, in
einem symphonischen Kinderorchester mitzumachen, wovon in Caracas
zehn existieren. Ein Netz davon im ganzen Land. Das seiner Wohnung
nächstgelegene hieß San Augustin, wohin die Mutter den
Zehnjährigen zerrte und ihm versprach: Wenn es dir nicht gefällt,
musst du nicht bleiben. „Ich hatte im Fernsehen einen Mann
gesehen, der mit den Händen durch die Luft fuhr. Langweilig!“
Kein Dirigieren. Den 50 Anfängerkindern zwischen 7 und 12 Jahren
wurden Instrumente vorgeführt. „Es war ganz eigenartig,
so viele verschiedene zu sehen, die man anfassen und spielen konnte.“
Und hören. „Es erklang der Kontrabass. Ich war wie geblendet.
Es war Liebe auf den ersten Blick.“ Besser: ersten Ton.
Gemälde aus Noten
Von Anfang an wurde gemeinsam musiziert. „Nebenbei erklärte
der Lehrer: Dies nennt sich Schwarz, dies Weiß, das sind zwei
Tempi, vier Takte, Pausenzeichen.“ Edicson hatte keine Ahnung
von Noten. „Zuerst habe ich die gesehen wie ein Gemälde.
Als ich das erste Mal eine Symphonie spielte, das war die 4. von
Tschaikowski, wusste ich gar nichts, nicht wie man die Hand hält,
den Bogen streicht.“ Auch Kinder, ihm überlegen, weil
schon länger dabei, machten es ihm vor. „So die Finger,
so das Largo. Und so habe ich es gelernt.“ Er war versessen
auf`s Spiel, übte, bis nachts die Mutter heimkam. Kein Jahr
später: Routinemässig wurden aus den über das Land
verteilten Kindersymphonieorchestern Mitglieder für das Nationale
Kinderorchester Venezuelas ausgesucht, Sitz in Caracas. „Es
ist eines unserer besten Orchester, es besteht aus den 250 begabtesten
Kindern des Landes.“ Edicson gehörte fortan zu ihnen,
glücklich über die Maßen. Kleidung, Instrument,
Noten, alles wurde gestellt, keiner zahlte für die Ausbildung.
Aber Essen muss auch sein. Das Geld, das die taxisteuernde Mutter
einfuhr, wurde immer weniger. „Sie weinte, als sie mir sagte:
,Edicson, du musst wie ich arbeiten gehen.’ Ich war elf und
sah das Leid meiner Mutter.“ Nach der Schule packte er nun
erst an der Kasse eines Supermarktes den Kunden die Einkäufe
in Plastikbeutel und kassierte Trinkgelder, bevor er wieder hinter
seinem Kontrabass saß, im Orchester und danach zu Hause. „Ich
habe täglich x Stunden geübt. Denn ich hatte nur ein Ziel:
mich verbessern.“ Unterstützt von Felix Petit, Kontrabasslehrer
des Nationalen Kinderorchester, und Doktor José Antonio Abreu,
Begründer und Leiter dieses pyramidal aufgebauten Systems der
musikalischen Kinderförderung. Edicsons Zuneigung zu beiden
ist tief. „Sie und meine Mutter sind meine Eltern. Ich telefoniere
noch heute mit ihnen, wenn ich Probleme habe.“ Mit der deutschen
Sprache, Kultur, Mentalität.
Zur Gipfelkonferenz der lateinamerikanischen Regierungschefs 1996
in Chile nahm der venezulanische Staatspräsident das Orchester,
also alle 250 Kinder, mit. Bislang keinen Fußbreit aus Caracas
herausgekommen lernt das Kind nun die Welt kennen. „Denn danach
gab es Verpflichtungen: Auftritte in Chile, Mexiko, Brasilien. Auch
in Europa, in Frankreich, Italien.“ Edicson Ruiz Augen hinter
randloser Brille, sie strahlen.
Mit 14 Jahren dritte Etappe. „Die meines musikalischen Triumphs.“
Beginn der Erfolgsserie mit dem Zuschlag der Kontrabassstelle im
Orchester „Simón Bolívar“, Sitz ebenfalls
in Caracas und Spitze der orchestralen Pyramide im Land, Leuchtturm
des Fördersystems und – bestes Orchester Lateinamerikas.
Ein Berufsorchester. „Im Grunde hatte ich mich vier Jahre
darauf vorbereitet: montags, dienstags, mittwochs, donnerstags,
freitags, sonnabends, sonntags.“ Orchesterwechsel und ökonomische
Wende. „Vom Habenichts zur finanziellen Vormundschaft über
unseren Haushalt. Bis zum heutigen Tag.“ Vom ersten Gehalt
kaufte er der Mutter Auto, Tiefkühlschrank, Waschmaschine,
Geschirr, Bekleidung. Doch kein Halt im Vorwärtsstreben. „Ich
lernte immer weiter von diesen Monstern, den Maestros der Musik.“
Ohne Vorlieben. Kein Vorziehen eines Komponisten. „Musik ist
eine historische Chronologie, die ich kennen und beherrschen will:
jede Epoche, jeden Stil, alle Farben, Formen, Elemente. Wenn ich
60 bin, werde ich sagen können, ich bin Musiker.“
Furore ohne Ende
Kaum die Orchester gewechselt, ein neues Ziel. „Felix Petit
sagte zu mir: ,Du musst einen der wichtigsten Wettbewerbe der Welt
gewinnen, den der Internationalen Gesellschaft der Kontrabassisten.
Der findet 2001 statt. Du hast zwei Jahre Zeit.’“ Antreten
durften 15- bis 18-Jährige. Er war 16 Jahre, als er nach Indianapolis
fuhr, spielte und gewann. Mit Elegie und Tarantella von Bottesini
für Kontrabass und Piano setze er sich gegen 35 Wettbewerbsteilnehmer
aus der Welt durch. In die Heimat zurückgekehrt: erster Auftritt
als Solist mit dem Konzert für Kontrabass und Orchester von
Kussewitzky. Noch im selben Sommer 2001: Einladung des Schleswig-Holstein
Musikfestivals zur Teilnahme an einem international ausgeschriebenen
Vorspiel und – erster Preis. Erfolg ebenfalls, als er der
Aufforderung eines Bassisten der Berliner Philharmoniker (gerade
kennen gelernt in Schleswig-Holstein) folgte, sich um ein Stipendium
für die Orchesterakademie der Philharmoniker zu bewerben.
Furore ohne Ende, nur das Alter bremste. Statt unvermittelt seine
Vervollkommnung in Berlin aufzunehmen, Rückkehr nach Venezuela,
letztes Schuljahr absitzen. Zwölf Monate später, September
2002: Er nimmt seinen Platz in der Orchesterakademie ein. Nur vier
Wochen Qualifikation verstreichen, Oktober 2002, schon schlagen
Dozenten der Akademie Edicson Ruiz vor, sich am Vorspiel um eine
Kontrabass-Vakanz bei den Philharmonikern selber zu beteiligen.
Und: erster Platz. „Ich im besten Orchester der Welt!“
Noch einmal bremst sein Alter, Warten bis zur Volljährigkeit
(siehe oben).
Beginn der vierten Lebensetappe: 2003, 18 Jahre. Das Mitglied
der Berliner Philharmoniker Edicson Ruiz wird als Solist geladen:
Ägypten, Spanien, Taiwan, Portugal. „Es ist die Etappe,
in der ich als Instrumentalist zu wachsen beginne.“ Kauf des
ersten eigenen Instrumentes.
Die Erfahrung innerhalb des Orchesters ist die der Perfektion.
„Das Orchester selbst ist jetzt meine Schule.“ Das Zusammenspiel
mit den Kollegen, das Einpassen, Einfügen in den Klangkörper
steht an. Auch der allerbeste Wettbewerbsteilnehmer durchläuft
deshalb eine Probephase. „Ich lerne, was in meinem Vermögen
steht.“ Er hat wieder einen Lehrer, den Solobassisten Klaus
Stoll. „Er ist wunderbar. Ich erfahre den Inhalt der Töne.
Die Textur der Musik.“ Und wieder, indem er musiziert. „Von
Anfang an habe ich gelernt, indem ich spielte. Mit dem Instrument
in der Hand.“