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nmz-archiv
nmz 2004/04 | Seite 8
53. Jahrgang | April
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Keine Zeit!
Es gibt Sitzungen, bei denen wird rund ein Viertel der Zeit darauf
verwendet, am Schluss ein für alle passendes Datum für
die nächste Sitzung festzulegen. Jeder hat eine fürchterlich
mit Terminen übersäte Agenda, und irgendwo eine gemeinsame
Lücke zu finden, gleicht der Quadratur des Zirkels. Die heutigen
Kulturmenschen gleichen in ihrem Beschäftigungsgrad Wirtschaftsmanagern,
nur mit dem Unterschied, dass diese den Clinch um ihr Zeitbudget
nicht persönlich ausfechten, sondern das von ihrer Zweitsekretärin
per Telefon erledigen lassen. Bei ihnen geht es ja auch nicht um
Streichquartette und Neue-Musik-Festivals, sondern um ganz andere
Peanuts.
Der Vergleich mag angesichts der unterschiedlichen Größenordnungen
hinken. Doch entgegen aller Unkenrufe läuft der Kulturbetrieb
offenbar immer noch auf Hochtouren. Die Macher hetzen von Meeting
zu Meeting, die Dirigenten jetten von Auftritt zu Auftritt, die
Journalisten haken Event nach Event ab. Und die Komponisten schlagen
sich mehr mit Unterricht, Kontaktpflege und Einstudierungsarbeiten
herum als mit ihrer eigentlichen Arbeit, dem Komponieren. Und weil
er dann keine Zeit zum Komponieren hat, liefert der Komponist die
Partitur beim Verlag zu spät ab. Und weil sie der Dirigent
vom Verlag zu spät bekommt, hat er keine Zeit, sie richtig
einzustudieren. Und weil das Orchester zu wenig Probenzeit zur Verfügung
hat, ist die Aufführung schlecht. Und weil der Kritiker keine
Zeit hat, vorab einen Blick in die Partitur zu werfen, ist seine
Kritik nichtssagend.
Da grenzt es dann schon an ein kleines Wunder, dass es noch ein
paar Zuhörer gibt, die die nötige Zeit dazu aufbringen,
diesen Veranstaltungstermin wahrzunehmen – pardon, ins Konzert
zu gehen. Und dass sie nicht merken, dass die da oben auf der Bühne
und die in den Verwaltungsetagen eigentlich gar keine Zeit haben,
das zu tun, wofür sie bezahlt werden und was sie ja eigentlich
alle tun möchten: Eine gute Aufführung zustande zu bringen.
Ursprünglich war Kultur eine Angelegenheit, die sich in der
sogenannten Freizeit abspielte. Am sogenannten Feierabend ging man
ins Theater oder ins Konzert. Man nahm sich die Zeit für das
andere. Dieser bürgerliche Kulturbegriff ist in den letzten
Jahrzehnten ausgiebig bekämpft und schließlich mit Erfolg
abgeschafft worden – zur Bestätigung werfe man einen
Blick in die Feuilletons der großen Tageszeitungen. Heute
ist alles Kultur, was sich irgendwie bewegt: vom taiwanesischen
Präsidentschaftskandidaten über Big Brother bis zu Wellnessbad
und DB-Lounge. In Gang gehalten wird diese Kultur von einer Art
allumfassender Betreuungsindustrie, die dem sogenannten Verbraucher
das Geld mit der Behauptung aus der Tasche zieht, speziell und ausschließlich
für ihn das Beste zu wollen.
Das geschieht überall und jederzeit. Der Achtundsechzigertraum
von der Versöhnung von Kultur und Alltag ist Wirklichkeit geworden.
Es ist nicht mehr zwingend nötig, zu den Orten der Kulturvermittlung
hinzugehen – die Zeit kann man sich sparen. Die Kultur wird
einem von den Betreuermedien gegen geringe Gebühr ins Haus
geliefert oder unterwegs im Auto, manchmal auch am Arbeitsplatz
begleitend verabreicht. Dazu braucht man gar keine Zeit mehr. Es
geschieht nebenher, als Zugabe zu all den wichtigeren Dingen, die
man gerade macht.
Doch mit dem Mangel an Zeit schwindet auch die Möglichkeit
des stressfreien Gedankenautauschs und des kollektiven Sicherinnerns;
das hat stets etwas mit Zuhören, Lesen und Nachdenken zu tun,
erfordert also einen Zeitaufwand. Auch die Musik steht zur Disposition,
denn sie braucht zum Erklingen und Gehörtwerden dummerweise
Zeit. Am besten also kompakte Dreiminutenclips oder die Zerlegung
längerer Stücke in ihre Einzelteile. Der Hörer hat
ja keine Zeit.
Was länger dauert, hat sich zu legitimieren. Ein Zeitverständnis,
das sich der empirisch gemessenen Zeit entzieht, ist bestenfalls
noch als Forschungsgegenstand von Anthropologen denkbar. Augustinus
und Hildegard werden wie der tibetanische Mönch und der ostafrikanische
Buschmann ins Exotenmuseum gestellt, wo man sie als Kuriosum bestaunen
kann. Falls man Zeit dazu hat. Vielleicht erhält dort irgendwann
auch einmal Bruckner sein Plätzchen – direkt neben dem
Geschichtenerzähler aus der alten Dorfgemeinschaft, mit dem
er etwas gemeinsam hat: Seine Erzählungen sind zu lang, und
deswegen hört ihm keiner mehr zu.
Sind allgemeine Wirtschaftsmisere, Subventionskürzungen und
inkompetente Politiker schuld, dass unsere gewachsene Kultur den
Bach runter geht, oder ist der Grund vielleicht ein anderer: dass
wir einfach nicht mehr genügend Zeit haben, um uns aktiv auf
kulturelle Dinge einzulassen – inbegriffen all das, was uns
frühere Generationen hinterlassen haben? Eine interessante
Frage, auf die man eigentlich näher eingehen müsste.
Geht leider nicht, denn der Redaktionsschluss ist da. Ich habe
keine Zeit.