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nmz-archiv
nmz 2004/04 | Seite 47
53. Jahrgang | April
Oper & Konzert
Der Avantgardist als Traditionalist?
Friedrich Cerha in Wien: Uraufführung des Requiems und ein
Symposium
An der Inschrift auf der Fassade, Wagners Meistersingern entlehnt
– „Ehrt Eure deutschen Meister – Dann bannt Ihr
gute Geister“ – wird es kaum gelegen haben, dass an
diesem letzten Februar-Samstag tatsächlich ein voll besetztes
Wiener Konzerthaus zu erleben war. Zweitausend ausverkaufte Plätze.
Auf dem Programm kein Haydn, kein Mozart, vielmehr die Uraufführung
des „Requiems“ von Friedrich Cerha - freilich auch ein
Wiener Komponist.
Auch wenn der ORF, der das Ereignis live übertrug, nationalpatriotisch-einvernehmend
einen alten Avantgardisten, der in den 50er-Jahren mit seinem Ensemble
„die reihe“ noch in Wiener Gaststätten und Teppichgeschäften
auftreten musste, zum „Doyen der heimischen Komponisten“
adelte – das Abonnement, das sich an diesem nasskalten Wiener
Winterabend vollzählig im Konzerthaus versammelte, hätte
ja durchaus auch zu Hause bleiben können. Tat es aber nicht.
Friedrich Cerha. Foto: Ch.
Oswald
Darin bestand zunächst der markanteste Unterschied zum hiesigen
Konzertleben. Wo, so fragte man sich, würde sich zwischen Hamburg
und München schon ein Abo-Publikum zu Lachenmann oder Henze
drängen? – In Wien, so war zu registrieren, gehen die
Uhren anders. In Wien geht man zu Cerha. Warum das so ist, bleibt
ein noch zu lüftendes Geheimnis.
Cerha – auf besagten Unterschied angesprochen – verhielt
sich argumentierend, abwägend. Ja, so der 78-Jährige,
das sei wohl eine Frucht jener Anstrengung, als er 1978 zusammen
mit seiner Frau noch einmal einen großen Vermittlungsversuch
unternommen und die Konzertreihe „Wege in unsere Zeit“
programmiert habe. Der Avantgardist als Traditionalist? Soviel zumindest
scheint klar, dass Tradition für Cerha mehr und anderes ist
als Schlamperei.
Das um die Requiem-Uraufführung herumgebaute Cerha-Symposium,
ausgerichtet von der „Universität für Musik und
Darstellende Kunst Wien“ unter Leitung des jungen Musikwissenschaftlers
Lukas Haselböck, gab in dieser Hinsicht manchen Fingerzeig,
verortete Cerha zielsicher im „Spannungsfeld von Unbotmäßigkeit
und Althergebrachtem“ (Peter Cossè). Keine schlechte
Formel für den Umstand, dass Cerha eben nicht nur Mitbegründer
eines legendären Ensembles ist, nicht nur Opernkomponist, nicht
nur ein Lulu-Vollender und mit seinem großen „Spiegel“-Projekt,
unabhängig von Ligeti, nicht nur ein Klangflächen-Experimentator.
Überzeugend berichtete das Symposium eben auch vom Komponisten
des subversiv Wienerischen Tons (Harmut Krones zur „Keintate“)
wie vom Praktiker und Herausgeber frühbarocker Musik (Markus
Grassl).
Alles in allem entstand so das (noch keineswegs vollständig
ausgeleuchtete) Bild eines Komponisten, der in sich (scheinbar)
Disparates verbindet. Dass Cerha die bekannten musikgesellschaftlichen
Warntafeln (entweder Alte oder Neue Musik, entweder Ensemble oder
Orchester, einmal Darmstadt, immer Darmstadt und Ähnliches)
so eigensinnig missachtet hat, vielmehr seinem Musenruf gefolgt
ist und dafür auch einen inneren Sinn mobilisieren konnte mit
Raum für Vieles und Verschiedenes, konstitutiert heute eine
Musiker-Persönlichkeit, die in ihrer Wiener Mischung aus Bescheidenheit
und Präzision schließlich auch die Herzen des (großen)
Publikums zu gewinnen imstande ist wie jetzt ein ausverkauftes Wiener
Konzerthaus anlässlich Cerhas „Requiem“ so sinnfällig
demonstrierte.
Musikwissenschaftler Jürg Stenzl jedenfalls schien es ausserordentlich
bemerkenswert, dass Cerha mit seinem Requiem, im Unterschied zu
Brahms, Ligeti, Zimmermann „die Idee der Gattungsspezifik
in einem geradezu emphatischen Sinne zu retten“ versucht habe.
Tatsächlich blieben die acht Gedichte von Cerhas eigener Hand,
die der Komponist zwischen die liturgischen Requiem-Teile eingeschoben
und zwei Solisten anvertraut hatte, die einzige Auffälligkeit
in einem ansonsten klassischen Aufbau mit großem Chor, großem
Orchester und Solisten. Sopranistin Iris Vermillion, Bariton Wojtek
Drabowicz, der Slowakisch-Philharmonische Chor sowie das Radio-Symphonieorchester
Wien unter Bertrand de Billy besorgten die lichtvolle Uraufführung
einer Musik über ein dunkel-vergrübeltes Textgebirge,
das keinen Weg aus der Wiederkehr des Immer-Gleichen weist.
Noch nach einem halben Jahrhundert, so Cerha über die unmittelbare
Kompositionsgeschichte, seien ihm seine traumatischen Kriegserlebnisse
in seine „Tages- und Nachtträume heraufgeschwemmt“.
Als „Schleusenöffner“ fungierten dabei zwei Kompositionsaufträge:
Für das internationale „Requiem der Versöhnung“
1994 in Stuttgart lieferte Cerha mit Introitus, Kyrie, und Libera
me den Österreich-Beitrag und fügte diesem Fragment im
Auftrag der Wiener Konzerthausgesellschaft jetzt die übrigen
Teile des liturgischen Requiems hinzu.
Die im Komponisten Friedrich Cerha begegnende Mischung aus Humanismus
und Existentialismus, Zeitgenossenschaft und Traditionsbindung,
die immer wieder Wege in unsere Zeit sucht und insofern die großen
musikalischen Gattungserrungenschaften verwandelnd festhalten muss,
kulminierte jetzt in Gestalt eines opus summum, einer eineinhalbstündigen
Totenmesse.
Wahrscheinlich, so mutmaßte der Komponist, habe er damit
zum letzten Mal ein derart groß dimensioniertes Werk vorgelegt,
das im Wiener Konzerthaus – darin freilich wäre dem ORF
uneingeschränkt zuzustimmen – für „Beklemmung
und Begeisterung“ sorgte.