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nmz-archiv
nmz 2004/04 | Seite 46
53. Jahrgang | April
Oper & Konzert
Neue Musik auf dem west-östlichen Diwan
Das „Forum neuer Musik 2004“ im Kölner Deutschlandfunk
bringt unbekannte Komponisten
Das „Festival für neue Musik“ von DeutschlandRadio
Berlin ist gerade verklungen („Vorstoß ins Unerhörte
– Das Berliner Festival Ultra-Schall“, nmz 2/04), da
zieht das Schwesterprogramm des Senders, Deutschlandfunk in Köln
mit dem „Forum neuer Musik“ nach: Kleiner, ohne schicke
Installationen und Klangkunstbilder, keine Angebote zum Abhängen
in der Late Lounge, keine Debatten über „Vernetzung“
und „Vermittlung“, vor allem aber ohne die großen
Namen der Szene, die so gern herumgereicht werden. Vier Konzerte
mit lauter „Unbekannten“. – Initiiert vom ehemaligen
Neue Musik-Redakteur Reinhard Oehlschlägel präsentierte
sich das „Forum neuer Musik“ im Deutschlandfunk jetzt
zum dritten Mal in der Verantwortung seines Nachfolgers Frank Kämpfer.
Stefan Froleyks und Reinbert
Evers bei der Uraufführung eines Stücks von Helena
Tulve. Foto: Deutschlandfunk
Zwar käme jeder Bilanzversuch mit Sicherheit zu früh,
doch die Konturen eines anderen Verständnisses dessen, was
neue Musik ist, sein oder werden kann, werden sichtbar. Kämpfer
selbst spricht von einem „beabsichtigten Grenzgang zwischen
Avantgarde-Standard und Eigenprofil“, um seinen ästhetisch-kategorischen
Imperativ auf die Formel zu bringen: „Sich öffnen, weg
von falscher Stringenz, herunter vom Sockel, auf Leute zugehen“
(Interview zur Forum-Ausgabe 2003, nmz 6/03). Was darunter zu verstehen
ist und inwiefern dem apostrophierten „Weg von“ bereits
ein „Hin zu“ korrespondiert, führt auf die Frage
nach der künstlerischen Bilanz der musikalischen März-Ereignisse
im Sendesaal des Kölner Deutschlandfunks, denn auch ein kleines
Forum ist ein Ort der Wahrheit.
Auf den ersten Blick gab sich das Forum neuer Musik in der Ausgabe
2004 als Bekenntnis zur Sprachenvielfalt. Ein markantes Wortcluster
zierte Festival-Plakat und Programmheft: Voor percussie –
Baltijos projektas – Blues, deconstructed – Dvorákuv
problém. Vier Konzertereignisse viersprachig angekündigt
mit großen Lettern vor dem Hintergrund einer Europakarte.
Doch schnell wurde klar: Das Cluster ist mitnichten ein Cluster,
vielmehr eine Akkordschichtung mit Tendenz zur Auflösung ins
Thema EU- Osterweiterung. Deren künstlerische Reflexe wollte
DLF-Neue Musik-Redakteur Frank Kämpfer in seinem dritten Forum-Spielplan
zu Gehör bringen. Programmiert waren zwei Kammermusikprojekte
zur jungen Komponisten- und Komponistinnenszene des Baltikums und
Tschechiens, dazu zwei niederländische Interpreten beziehungsweise
Interpretenformationen – Pianist Marcel Worms (Blues, deconstructed)
aus Amsterdam und die Slagwerkgroep Den Haag (Voor percussie) –
mit schwerpunktbildenden Innenansichten aus den staatlichen Zerfallsprodukten
der ehemaligen Jugoslawischen Föderation.
Die Slagwerkgroep Den Haag.
Foto: Deutschlandfunk
Der zweite Blick verriet freilich auch, dass das im Forum-Programm
2004 gebotene Material übers Osteuropa-Thema doch mit großer
Selbstverständlichkeit hinaustendiert. Im Fortgang wurde offenkundig,
dass sich das junge „osteuropäische“ Komponieren
entlang einer virtuellen Linie Baltikum-Tschechien-Ex-Jugoslawien
ebensogut aufs Herkommen bezieht, wie es diesem zu entkommen versucht.
Am deutlichsten zeigte sich dies im pianistisch virtuosen Blues-Abend
des Amsterdamer Marcel Worms, der sich seit Jahr und Tag immer wieder
neue-alte Blueskompositionen schreiben lässt.
Solcherart Aufnehmen von geborgtem Material kehrte auch wieder
in dem vom Gitarristen Reinbert Evers geleiteten und mitverantworteten
Kammermusikprogramm Baltijos projektas mit dem kanadischen Accordes
String Quartet. Unüberhörbar spielten Minimal, Jazz sowie
Folklore- und Popidiome in die Arbeiten der jungen lettischen Komponistin
Ruta Paidere (geb. 1977) wie in die ihrer litauischen Kollegin Raminta
Serksnyte (geb. 1975) hinein, beide in Köln mit uraufzuführenden
Auftragswerken des Deutschlandfunks vertreten. Letztere präsentierte
ein jazzinspiriertes Trugbild („Mirage“) für Gitarre
solo, dessen vorgeblich fremdartige, unreale Klänge –
Tonverbiegungen, Vibrato, Glissandi, Klopfen – sich indes
als doch ziemlich bekannt und real erwiesen.
„Lichterspiel“ und „Lichtreflexionen“ hatten
es der in Hamburg lebenden, aus Riga stammenden Ruta Paidere angetan.
Bis in den Titel ihrer jüngsten Arbeit verbeugte sie sich vor
dem Minimal-Denkmal Steve Reich, dessen „Different Trains“
sie mit Hilfe von Gitarre, Vibraphon und Schlagzeug in atmosphärische
„Different lights“ modulierte.
Das dritte Auftragswerk war der in Paris lebenden, aus Tallin stammenden
Helena Tulve (geb. 1972) anvertraut. Diese beschwor in ihren „éffleurements,
éclatements“ für Gitarre und Percussion unter
Bezug auf französische Spektralmusik naturräumliche Erfahrungen
ihrer Heimat. „Ich bin ein nordisches Wesen“ ließ
sie sich im Programmheft zitieren. Dass dies mitnichten ein Ausrutscher
war, bewies der von Lutz Lesle verantwortete, musikwissenschaftliche
Beitrag zur baltischen Komponistenszene: „Die Ruhe der Wälder,
der Spiegel der Seen und die Weite des Meeres sind für sie
unverzichtbare Quellen der Inspiration.“ Der Norden –
man registrierte es mit Überraschung – ist anders.
Wenn gute Geschichten dadurch bestimmt sind, dass sie ihr Geheimnis
nicht vor dem Ende preisgeben, so enthüllte freilich auch erst
der Schluss des Forums neuer Musik 2004 im Deutschlandfunk, auf
welche Frage die vorangegangenen Programmteile geantwortet, respektive
versucht hatten, zu antworten. Erst das tschechische Ensemble MoEns
stellte die dazugehörige Frage konkret: Dvorákuv problém!
Was ist Dvoráks Problem?
Eigentlich eine bekannte Fragestellung: „Wie muss“ –
so paraphrasierte Kämpfer in einer seiner konzerteröffnenden
Kurzmoderation das Problem des tschechischen Komponisten –
„zeitgenössische Musik beschaffen sein, um den Weg zu
den Hörern zu finden und zugleich innovativ zu bleiben?“
Dvoráks Problem erwies sich somit alles andere als ein
historisch-museales, vielmehr als Problem all derjenigen, die heute
mit dem Komponieren, Interpretieren und Programmieren Neuer Musik
befasst sind: Erfolg beim Publikum nicht auf Kosten von Qualität
und Qualität, nicht unter Preisgabe des Publikums – eine
Quadratur des Kreises?
Nicht für das Ensemble MoEns aus Prag, das 1995 als Abspaltung
aus Agon – seinerseits eine Frucht der samtenen Revolution
von 1989 – hervorgegangen ist. Im Unterschied zu Agon, das
sich als dezidierte Avantgarde-Formation begriff, bekannte und bekennt
sich MoEns zu einer neuen stilistischen Breite.
Mit den vom Deutschlandfunk beim Ensemble-Komponisten und Pianisten
Hanus Barton sowie bei Miroslav Pudlák, dem komponierenden
Dirigenten und früheren Agon-Mitbegründer in Auftrag gegebenen
Arbeiten – weitere Beispiele für die von Kämpfer
engagiert vertretene „mäzenatische Verpflichtung des
öffentlich-rechtlichen Rundfunks“ – kam das Forum
neuer Musik nach schweifenden Exkursionen in die nordische Landschaft
und in den Blues in der Gegenwart an.
Die Antwort(en), die MoEns einem ebenso zahlreich erschienenen
wie aufmerksam lauschenden Publikum auf Dvoráks Problem servierte,
genügten zunächst dem Anspruch, Kunst möge in der
Lage sein, die Gegenwart auszudrücken, die Zeit in musikalische
Gedanken zu fassen, auch wenn diese nicht mehr die Zeit von diesem
oder jenem ist, sondern – was vom Ensemble MoEns deutlich
gespürt wird – die Gleichzeitigkeit von Vielem und vor
allem Ungleichzeitigem.
Das mit hoher Intensität aufspielende Prager Ensemble in der
Besetzung Flöte, Klarinette, Violine, Viola, Cello, Klavier
und Synthesizer präsentierte mit Bartons Oaza/Oase und Pudláks
Aria zu keinem Zeitpunkt ausrechenbare Arbeiten. Barton und Pudlák
wie ihre tschechischen Komponistenkollegen Peter Graham, Marko Ivanovic
und Michael Nejtek beeindruckten mit ihren Mischungen aus repetitiven
Mustern, tonalen Zentren, statischen Klangflächen, Melodieformeln,
rhythmischen Breaks, Pausen, Erinnerungen an die Avantgarde und
vielem mehr. Alles in allem ein realistischer Ausdruck für
die Erfahrung einer Realität, in der es – EU-Osterweiterung
hin oder her – keinen „Osten“ und keinen „Westen“
mehr gibt. In der Kunst – soviel zumindest konnte das Kölner
Forum neuer Musik vermitteln – ist es schon ein Diwan geworden.