[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2004/04 | Seite 45
53. Jahrgang | April
Oper & Konzert
Im Klang-Raum-Theater verebbt des Dichters Sprache
Matthias Pintschers neue Oper „L’Espace dernier“
an der Opéra-Bastille uraufgeführt: eine Rimbaud-Imagination
Wie könnte eine Dichter-Oper in alter Manier aussehen? Ein
ambitionierter Komponist wie Matthias Pintscher hat, wie viele andere
Komponisten und Komponistinnen derzeit, wenig Interesse an einer
veroperten Biographie, überhaupt an tradierten Erzählweisen,
die brav eine Handlung durchbuchstabieren, höchstens einmal
hier und da kleine Zeitsprünge, nach vorn oder zurück,
ins Libretto einfügen. Angestrebt wird, und das gilt hier nun
besonders für Pintschers „Rimbaud“-Oper, die Totalität
aller musikalischen, theatralischen und optischen Ausdrucksmittel.
Es kreist die Konstruktionm:
Die Bühne zu „L’espace dernier“ von
Matthias Pintscher. Foto: Opéra Bastille
Der „Gegenstand“ des Interesses, die Person und das
Werk Arthur Rimbauds werden von diesen Ausdruckselementen gleichsam
umstellt, betrachtet, gespiegelt, in diese förmlich aufgesogen,
wobei die Komplexität und Kompliziertheit des Rimbaud’schen
Dichtens in die Struktur der Komposition „übersetzt“
wird. Es ist so ähnlich, als beträte man eine Installation
zum Thema Rimbaud, wo im dunklen Raum Klänge, Geräusche,
Filmbilder, Textzitate und gespielte Aktionen sich assoziativ zum
Stich- und Reizwort „Rimbaud“ zusammenschließen,
sich im Zeichen des Dichters synästhetisch vereinigen: zu einem
Gesamtkunstwerk, in dem Person und Werk des Künstlers wie einkokoniert
erscheinen.
Deshalb nennt Pintscher sein Bühnenwerk auch nicht „Rimbaud“,
sondern „L’Espace dernier“ – „Der
letzte Raum“. In diesem Raum ist zu Beginn nicht nur der Dichter
verstorben, der „Letzte Raum“ steht symbolisch für
die Situation der Kunst und die Stellung des einzelnen Künstlers
in ihr. Rimbaud gab nach vier Jahren das Dichten auf – warum?
Vielleicht spürte er, dass Kunst in seinem damaligen politischen
und gesellschaftlichen Umfeld zunehmend funktionslos wurde: ihre
denkbaren Wirkungen und Einflussmöglichkeiten zersplitterten
an der Realität. Fragmentierung, Zerstörung, Entgrenzung
in Rimbauds Texten sind eine Reaktion auf diesen Prozess, sozusagen
seine Spiegelung. Stehen wir heute nicht wieder in diesem Prozess:
trotz aller Bekundungen und Sonntagsreden zeichnet sich immer schärfer
und bedrohlicher ab, dass sich Kunst allgemein, also Musik, Dichtung,
oder Malerei einem wachsenden Legitimationszwang ausgesetzt sehen.
Der dreiunddreißig Jahre alte Pintscher, nach den Regeln des
gegenwärtigen Systems ein Erfolgskomponist, ist zu intelligent,
um nicht die dunkle Rückseite für den schöpferischen
Künstler-Komponisten zu erkennen: wo findet man den tieferen
existenziellen Sinn in seinem Tun? Sind nicht alles nur Rückzugsgefechte,
wie bei Rimbaud, der von heute auf morgen für sich die Kunst
liquidierte und sich auf die Straße der Verlorenheit, des
Vagabundierenden, der existentielle Ortlosigkeit begab?
Das alles sind Gedanken, die einen schon in der Aufführung
in der Pariser Bastille-Oper überfallen. Pintschers Affinität
zu dem französischen Dichter reicht weit über das rein
literarische Interesse hinaus, dringt in die eigene Selbstfindung
ein, soll helfen, ästhetische und private Positionierungen
zu bestimmen. Letztlich zeigt sich Pintschers Rimbaud-Oper (die
keine solche sein will und ist) als eine große Selbstreflexion,
voller Fragestellungen und Zweifel: Wozu brauchen wir die Kunst?
Was kann sie bewirken? Im „letzten Raum“ bündeln
sich auch diese bohrenden Fragen. Der Komponist selbst beschreibt
im Pariser Programmbuch die Intentionen, die ihn bei der Herstellung
des Szenarios leiteten: „Keine narrative Handlung...die Menschen,
die den ,letzten Raum’ betreten, sich in ihm bewegen und orientieren
und ihn wieder verlassen, tragen Fundstücke aus Arthur Rimbaud’s
Dichtung und Leben zu uns. Sie benennen sich nicht selbst; vielmehr
definieren sie sich durch die mitgebrachten Textfragmente im Verhältnis
zu dem sich akustisch und visuell ständig verändernden
,letzten Raum’.
Biographische Details tauchen nur als Fetzen einer von weither
zugewehten Erinnerung durch“. Das Material, das Pintscher
verarbeitet, die „Fundstücke“, stammt ausnahmslos
aus der Sphäre Rimbauds: aus seinen Dichtungen, seiner Korrespondenz,
eigenen Briefen und den Antworten der Adressaten sowie aus Tagebuchnotizen
seiner beiden Schwestern Vitalie und Isabelle, die hier zu einer
Figur zusammengelegt erscheinen: als die „Frau“, eine
„Sprechpartie“.
Die zweite Sprechpartie, als „Mann“ bezeichnet, könnte,
wie der Komponist andeutet, Djami sein, Rimbauds langjähriger
afrikanischer Diener, Begleiter und Freund. Die gesungenen Partien,
sechs Solisten (vier Frauen, zwei Männer) und ein Vokalensemble
aus 16 Frauenstimmen versteht Pintscher als „Absplitterungen“
der beiden Sprechpartien. Dahinter steckt als Konzept die Herstellung
eines Raumklangs, das auch für die instrumentale Besetzung
gilt: Von den drei Orchestergruppen sitzen zwei im Orchestergraben,
eine auf der Szene rechts oben, von einem Ko-Dirigenten geleitet.
Hinzu treten noch drei einzeln im Zuschauerraum platzierte Violoncelli,
ein Solo-Kontrabass, mehrere Schlagzeuger sowie Live-Elektronik.
Das Werk gliedert sich in vier in etwa gleich umfangreiche Teile,
die jeweils durch kurze Seqenzen der im Raum verteilten Celli miteinander
verbunden sind. Die Textpartikel sind unter anderem den Dichtungen
„Les Illuminations“ („Départ“) und
„Une saison en enfer“ entnommen. Wenn die Akteure ihre
„Texte“ sprechen, definieren sie sich dabei nicht als
dramatische Figuren, vielmehr als Wortträger, die Wortzeichen
aussenden. Der Zuschauer/-hörer wird evoziert, seine individuellen
Imaginationen zu entfalten, sich quasi mit in den Klang-Raum zu
begeben, gleichsam „mitzuspielen“. Da werden allerdings
an den weniger erfahrenen „Mitspieler“ Anforderungen
gestellt, die leicht zu einer Entfernung von dem Werk, statt zu
kommunizierender Teilnahme führen können. Zumal Pintschers
Musik sich konsequent alles Rauschhaften, Wilden, Klangsüffigen
verweigert. Eher spröde, dunkelgetönte Klanggebilde prägen
die Eckteile, im ersten wird das Material für alle Abschnitte
fast tastend präpariert. Im zweiten Teil „Sur Départ“
dominieren die Vokalsolisten, im dritten erfolgt eine Art „Entfesselung“
in hohem Tempo mit raschen Koloraturen und gesteigerter Expression.
In solchen Augenblicken gewinnt Pintschers Rimbaud-Musik ein kaltes
Glühen, das eigenartige Faszination ausstrahlt. Dieses kalte
Glühen bemerkt man auch bei den Vokalpartien. Die hohen Frauenstimmen
wecken dabei Erinnerungen an Luigi Nonos „Prometeo“.
Nono nennt seinen „Prometeo“ eine „Tragödie
des Hörens“ und hat dabei nicht unbedingt an eine szenische
Realisierung des Werkes gedacht: die „Tragödie“
wird im Klang dargestellt, findet sozusagen im „Kopf“
des Zuhörers statt. In gewisser Weise entspricht diese Dramaturgie
auch Pintschers „L’Espace dernier“. Das Werk tendiert
stark zu einer Raum-Klang-Installation, in die der Besucher eintritt,
um mit den akustischen, optischen und gestischen Ereignissen zu
korrespondieren. Das wird besonders am Ende deutlich, wenn die Klänge,
Gesten, Töne immer mehr verebben, kaum noch wahrnehmbar sind.
Pintscher beschreibt das im Szenario sehr eindringlich. Mit der
Auflösung der Sprache geht der Verlust jeglicher Kommunikationsfähigkeit
verloren. Da wölbt sich dann ein großer, weitgespannter
Bogen von Rimbaud bis in unsere Gegenwart. Das hat schon etwas Erschreckendes.
Der Szeniker Michael Simon, Regisseur, Raumgestalter und Lichtdesigner
in Personalunion erkannte sehr präzise Eigenart und Anspruch
des Werkes: Auf der Riesenbühne der Bastille-Oper entstand
eine Groß-Installation als exakte Realisierung eines „letzten
Raumes“: keine Dekoration, keine Koloristik, nur strenges
Schwarz-Weiß, Hell-Dunkel, scharfe Konturen, klare Gliederung
des Raumes durch zwei sich gegeneinander drehende dunkelgraue Halbrund-Wände
und eine bewegliche Gitterkonstruktion als eine Art Gefängnis.
In diesem Raum bewegten sich die Figuren wie Zeichensetzungen: rennend,
langsam schreitend, stehend, zu Boden stürzend, in immer neuen
Variationen. Die weißen Kostüme der Frauen, ein etwas
komisch geschnittenes Hängekleidchen, gemahnte unfreiwillig
an Dornach und Steiner-Schule. Das könnte man sicher auch anders,
strenger, nicht so putzig gestalten.
Glänzend auch die musikalische Realisierung. Vor allem die
Frauenstimmen erklangen mit glühendem Leuchten, von expressiver
Intensität durchpulst. Die Namen der Sänger der namenlosen
Personen möge man beistehender Legende entnehmen. Mit Kwame
Ryan stand ein in Sachen Neue Musik kompetenter und erfahrener Dirigent
vor dem Pariser Opernorchester, das bei solcherart „Führung“
über sich hinauswuchs und fast so souverän agierte, als
wollte es dem Ensemble Modern Orchestra Konkurrenz machen.