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nmz-archiv
nmz 2004/04 | Seite 44
53. Jahrgang | April
Oper & Konzert
Gemeißelte Klangskulpturen und surreale Filmbilder
Wolfgang Rihms vollendeter „Chiffre“-Zyklus erstmals
komplett in Köln aufgeführt · Von Gerhard Rohde
Vollendet ist das große Werk: Wolfgang Rihm komponierte
noch ein letztes Stück für seinen nunmehr zehnteiligen
„Chiffre“-Zyklus. Es trägt den zweifellos sinnstiftenden
Titel „Nach-Schrift“ und im Untertitel „Eine Chiffre
für Ensemble“. Das „Ensemble“ wird gebildet
aus Flöte, Oboe, Klarinette (auch Bassklarinette), Fagott,
Horn, Trompete, Basstrompete, Posaune, Schlagwerk (unter anderem
mit zehn Cymbales antiques), 2 Violinen, Viola, 2 Violoncelli, Kontrabass
sowie einem solistisch eingesetzten Klavier. Das Werk, dessen Entstehungszeit
mit 1982 und 2004 angegeben wird, entstand im Auftrag der Kunststiftung
Nordrhein-Westfalen und der „musikFabrik“, deren Ensemble
für Neue Musik es jetzt im Rahmen einer Gesamtaufführung
des Zyklus im Großen Sendesaal des Westdeutschen Rundfunks
Köln uraufführte.
Klang-Bilder zu Film-Bildern:
Rihm/Búnúels „Un chien andaloú“.
Foto: Charlotte Oswald
Wie „Chiffre I“ beginnt auch „Nach-Schrift“
mit dominierenden markanten Tonrepetitionen des Klaviers, die sich
sofort in den von den anderen Instrumenten gebildeten Klangraum
gleichsam „einmeißeln“. Die repetierenden Elemente
und Figurationen pflanzen sich auch in anderen Instrumenten fort,
äußerst differenziert in Energieabstrahlung und Bewegungsstruktur.
Man darf das durchaus mit dem Schaffensakt eines Bildhauers vergleichen,
der mit Hammer und Meißel dem ungeformten Steinblock „hämmernd“
zu Leibe rückt, aus diesem die „Figur“ (abstrakt
oder auch gegenständlich) hervortreibt. Rihms Steinblock ist
der zunächst noch offene, leere Raum, in den er dann unablässig,
wie er es formuliert: „... eine Folge klingender Zeichen,
meist scharf gemeißelt, wie Hieroglyphen, Keilschriften, fremde
Zeichen...“ hineinschreibt, so einen Klang-Raum erstellend,
der durch „Zeichen im Klang“ definiert wird. Was dabei
entsteht, ist bereits das Werk selbst, nicht das Material, das dann,
wie bei anderen Komponisten, erst zur Komposition verarbeitetet
wird. Physiker und Mathematiker können bei Rihms Klang-Zeichen-Setzungen
an die höchst komplexen Prinzipien der Vektor-Rechnung denken,
die Definition und Berechnung von Vektor-Räumen durch Pfeile,
die Angriffspunkt, Richtung und Größe bezeichnen.
Rihms komponierte „Vektoren“ beschränken sich
nun nicht auf physikalisch-mathematische Klang-Operationen. Dabei
würden wohl letztendlich nur trocken-abstrakte Musik-Gebilde
herausspringen. Auch in den „Chiffre“-Stücken,
die in den achtziger Jahren in loser Folge herauskamen und einzeln
aufgeführt wurden, präsentiert sich, ebenso wie nun in
der „Nach-Schrift“, ein kompositorischer élan
vital, der zu überwältigen vermag. Rihm selbst hat für
sein Arbeiten Begriffe wie „vegetatives Komponieren“
oder „genetisches Material“ (das es zu bearbeiten gilt)
geprägt. Das klingt nach Zügellosigkeit, Formlosigkeit,
Willkür, falsch verstandener Freiheit. Gerade aber wenn man
jetzt den kompletten „Chiffre“-Zyklus in einer Live-Aufführung
erlebt, erkennt man auch, wie diszipliniert Rihm seine Klang-Imaginationen
„wuchern“ läßt, wie die „Erfindungen“
im scheinbar freien Klang-Raum konzentriert werden, dabei quasi
Form konstituierend: die freie, variable Form einer „Klang-Skulptur“.
Eine latente formale Klammer entsteht auch durch gewisse Kontinuitäten.
Die einzelnen Stücke wirken in ihrer unmittelbaren Aufeinanderfolge
wie ein Staffettenlauf: Bestimmte instrumentale Passagen, wie das
schon genannte „Klavier-Hämmern“, kehren modifiziert
häufig wieder. Ein verbindender Gestus folgt auch aus der Besetzung
der einzelnen „Chiffren“. Ensemble-Formationen umfassen
nicht mehr als sechzehn, siebzehn Instrumentalisten, es gibt Besetzungen
für acht, neun, zwölf und vierzehn Spieler und sogar in
„Chiffre IV“ ein Trio mit Bassklarinette, Violoncello
und Klavier: ein scheinbar aus dem Rahmen fallendes Stück mit
statischen, auch changierenden Klängen, schnellen rhythmischen
Akzentuierungen, die wie motivische Restpartikel anmuten. Im Umfeld
der anderen Werke wirkt das Trio wie eine Kleinplastik, eine gleichsam
„vollendete“ Vorstudie für ein größeres
Format.
Einen besonderen Platz im Zyklus nimmt, außerhalb der Bezifferung
wie die „Nach-Schrift“, die Chiffre „Bild“
ein: die Komposition „Bild“ entstand 1984 als Auftrag
des WDR in Korrespondenz zu Bunuels und Dalis surrealistischem Film
„Un chien andalou“ aus dem Jahr 1928. Es ist keine Filmmusik
im üblichen Sinn, keine Begleitung der schockierenden Kino-Bilder
durch Musik, sondern eine freie Adaption des Optischen in Klang,
in eine autonome, zeichen-und gestenreiche „Übersetzung“
filmischer Ausdrucksmittel in musikalische. Rihm läßt
die parallele Aufführung zu, bevorzugt aber die getrennte Vorführung:
Das machte hier auch deshalb mehr Sinn, als man so die bemerkenswerte
Plastizität der „Bild“-Komposition ungestört
erfahren konnte. Die einkomponierten scharfen Schnitte wirkten wie
ein schockierender Reflex auf den berühmten „Augenschnitt“
am Beginn des Films, bei dem sich Rihm ausdrücklich keine Musik
wünscht. Die Musik ähnelt hierbei den Horizonten auf den
Bildern Caspar David Friedrichs:
Auch diese wirken in ihrer scharfen Linearität, als hätte
man dem Betrachter die Augenlider mit einem Rasiermesser weggeschnitten.
Auch Assoziationen entwickeln sich oft vegetativ. Die Kölner
Aufführung des kompletten „Chiffre“-Zyklus gestaltete
sich zu einem Triumph für den anwesenden Komponisten und für
das Ensemble der „musikFabrik“, das unter der Leitung
von Stefan Asbury förmlich einen Qualitätssprung absolvierte.
Herausragend: Der Pianist Ulrich Löffler als personifizierter
Basso continuo im Ensemble.