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nmz-archiv
nmz 2004/04 | Seite 5-6
53. Jahrgang | April
Feature
Zwei Komponisten, zwei Wege, ein Jahrhundert
Harald Genzmer und Kurt Schwaen, Jahrgang 1909, immer noch aktiv
· Von Reinhard Schulz
Ein ganzes Jahrhundert Musikgeschichte – fast. Harald Genzmer
feierte am 9. Februar 2004 seinen 95. Geburtstag, Kurt Schwaen hat
das Datum noch vor sich, er wird am 21. Juni 95 Jahre alt. Zwei
Komponistenleben laufen parallel, dennoch verlaufen sie wegen der
politischen Entwicklung in Deutschland auch weitgehend getrennt.
Fragen sind zu stellen, wie diese unterschiedlichen Voraussetzungen
und Bedingungen auf das Schaffen, auf die Persönlichkeit beider
Komponisten einwirkten. Musikgeschichte in einem nach der nationalsozialistischen
Verwüstung geteilten Land spiegelt sich an diesen beiden Komponisten.
Der Artikel erinnert an die Geburtstage (und gratuliert, wenn auch
bei Schwaen in unerlaubter Weise vorab) sein Hauptaugenmerk aber
soll auf den Punkt des Komponierens unter verschiedenen Verhältnissen
gerichtet werden.
Musikalische Zeuge eines
ganzen Jahrhunderts: Harald Genzmer. Fotos: Stefan Conradi/Edition
Peters (li.).
Zwei Ausgangsbedingungen, zwei Credos: sowohl bei Schwaen wie bei
Genzmer fällt die musikalische Begabung früh auf. Schwaen
ist im oberschlesischen Kattowitz geboren und war schon in der Schule
als Pianist und Improvisator gefragt. Genzmer ist in Blumenthal
bei Bremen geboren. Beide aber zieht es nach Berlin, dem Zentrum
der musikalischen Aktivitäten im Deutschland der 20er Jahre.
Genzmer ging zu Paul Hindemith, bei dem er 1928 mit dem Studium
der Komposition begann. Der Wunsch, Komponist zu werden, stand also
schon damals weitgehend fest. Schwaen mochte sich da scheinbar noch
nicht so festlegen. Der Reger-Schüler Fritz Lubrich unterrichtete
ihn in Klavier- und Orgelspiel und ermunterte zu kompositorischer
Betätigung. Ein Jahr später als Genzmer, 1929, kommt auch
Schwaen nach Berlin und studierte Musikwissenschaft, Germanistik,
Kunstgeschichte und Philosophie. Kompositorisches Wirken stand noch
nicht im Zentrum. Viel später sollten beide über das Ziel
ihres kompositorischen Wirkens äußern: „Musik soll
vital, kunstvoll und verständlich sein. Als praktikabel möge
sie den Interpreten für sich gewinnen, als erfassbar sodann
den Hörer. Das Prinzip Komponieren ist auch Dienst am Menschen.“
So Harald Genzmer und Kurt Schwaen hat ähnliche Prämissen:
„Aufgaben: Musik für ein vorhandenes Publikum schreiben.
Publikum für eine vorhandene Musik gewinnen. Oder anders: Kunst
für die Menschen fordern, Menschen für die Kunst fördern.“
Das sind Resultate langer schöpferischer Erfahrung.
kzentverlagerungen wären auszumachen. Genzmer denkt Musik
für den Interpreten („praktikabel“) und über
ihn, über die Fasslichkeit seiner Darstellung (die natürlich
auch Prinzip der Komposition ist) soll der Hörer erreicht werden.
Musik und das Publikum
Schwaen hingegen fokussiert stärker auf die Wechselwirkung:
Musik für das Publikum, aber auch ein (durch den Umgang mit
der Musik emanzipiertes) Publikum für die Musik. Fordern und
Fördern ergänzen sich dialektisch und die Begriffe zielen
auf beide Seiten: auf den Schaffenden wie auf den Hörer. Trotz
dieser leisen Gewichtsverlagerung des schöpferischen Selbstverständnisses
ist kaum anzunehmen, dass diesbezüglich ein Grundsatzstreit
zwischen Genzmer und Schwaen entstehen könnte. Die Stoßrichtung
ist ähnlich.
Jetzt aber, nach Abschluss der Studien und zu Beginn der nationalsozialistischen
Diktatur liefen die Lebensläufe Genzmers und Schwaens auseinander.
Es gab einmal in den 20er Jahren einen Zerwürfnisstreit zwischen
Arnold Schönberg und seinem Schüler Hanns Eisler. Eisler
forderte die unbedingte politische Parteinahme der Kunst, auch mit
dem Preis unterschiedlicher Niveauebenen (die von der Praxis zu
definieren sind), Schönberg entgegnete, dass der Künstler
am wirksamsten tätig ist, wenn er das macht, was er am besten
kann: also im Falle von ihm und auch Eisler das Komponieren auf
dem Stand der Gegenwart. Es ist nicht anzunehmen, dass diese Debatte
Schwaen oder Genzmer bekannt war, für gewiss aber kann gehalten
werden, dass sie in ähnlicher Form unter den schöpferischen
Kräften, zumal im politisch bewegten Berlin, mannigfach geführt
wurde. Man sollte heute nicht im Allgemeinen vorschnell Partei ergreifen
(privat freilich wird jeder künstlerisch Tätige freilich
immer eine Position einnehmen müssen und in den 60er und 70er-Jahren
zum Beispiel polarisierten sich die künstlerischen Ansätze
eines Boulez und Nono in ähnlicher Weise).
Schönbergs Position
Anton Webern etwa wählte Schönbergs Position –
und zwar im Raume des Deutschen Reiches, was ihm künstlerisch
totale Isolation einbrachte, wohingegen er, denn man debattierte
durchaus in politischen Kreisen der NS-Führung über ihn,
gesellschaftlich als unbedenklich eingestuft wurde. Genzmer schlug
ebenfalls den Weg der Konzentration auf das Komponieren ein und
konnte als „Unpolitischer“, zumal er noch jung und relativ
unbekannt war, im Dritten Reich sein Auskommen auf musikalischer
Basis finden (den bekannteren Komponisten wurden in der Regel klarere
Stellungnahmen abverlangt, wie es sich zum Beispiel im Tauziehen
um die Person des Genzmer-Lehrers Paul Hindemith niederschlug).
Schwaen aber betätigte sich politisch. Wegen seines Engagements
gegen das NS-Regime wurde er 1935 zu einer dreijährigen Zuchthausstrafe
verurteilt. Sein Reifen als Komponist vollzog sich schon davor im
Wesentlichen autodidaktisch. Nach der Entlassung arbeitete er als
Korrepetitor, vor allem in einem Berliner Studio für künstlerischen
Ausdruckstanz, gegen Ende des Krieges wurde er, als bedingt tauglich
eingestuft, in die berüchtigte Strafdivision 999 eingezogen.
Genzmer hingegen arbeitete während des Krieges als Lehrer an
der Jugendmusikschule in Neukölln. Dort entstand auch sein
erstes Konzert für das neuentwickelte elektroakustische Instrument
Trautonium.
Musikalische Zeuge eines
ganzen Jahrhunderts: Kurt Schwaen. Foto: AMA/Verlag Neue
Musik
Waren dadurch die Wege vorgezeichnet? Genzmer jedenfalls ging nach
dem Krieg in den Westen, wurde 1946 Professor für Komposition
in Freiburg, gut zehn Jahre später dann in München. Schwaen
hingegen, der im Ostteil Deutschlands und in der späteren DDR
blieb, wurde nach dem Krieg mit zentralen kulturpolitischen Aufgaben
betraut. Er übernahm Aufgaben beim Aufbau von Volksmusikschulen
und war Musikreferent der Deutschen Volksbühne. Hierfür
begann er auch kompositorisch zu wirken. Ab 1953 war er dann freischaffender
Komponist, was in der DDR eher leichter möglich war als auf
dem freien Markt des Westens (wo aber zu dieser Zeit vor allem durch
den Rundfunk relativ großzügig Mittel vergeben wurden).
Das pädagogische Wirken Kurt Schwaens konzentrierte sich vornehmlich
auf das Erstellen von häufig szenischen Stücken, die in
der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen eingesetzt wurden.
Auch hier wieder Parallelen: auch Genzmer, hierin dem Vorbild
seines Lehrers Hindemith folgend, verlor den Nachwuchs nie aus den
Augen. Er schrieb eine Legion von Studienwerken, deckte mit ihnen
gewissermaßen alle Instrumente und Instrumentalgattungen ab
und wurde auf diese Weise zum meistgespielten E-Musik-Komponisten
in Westdeutschland. Kein Schulmusikorchester, kein Studiengang an
den Hochschulen mochte auf das reiche kompositorische Material Genzmers
verzichten. Beide Komponisten schrieben also Stücke, die unter
dem unschönen Begriff der Gebrauchsmusik oder der Spielliteratur
firmieren (den Begriff Gebrauchsmusik hat Schwaen in einem Aufsatz
aus den 50er-Jahren schön gewendet: Gebrauchsmusik, das sei
ja wohl Musik, die gebraucht würde; eben solche wolle er schreiben).
Beide taten dies mit großem Erfolg, deckten breit die Nachfrage
ab, was sich nicht zuletzt in erstaunlichen Werkszahlen ablesen
lässt (bei Schwaen sind es über 600, bei Genzmer hat man
wohl noch nie genau nachgezählt, aber auch hier erreicht man
solche Regionen).
Nun stellten sich für beide Komponisten auch Widerstände
ein. Harald Genzmer galt schon bald für die junge, nachrückende
Komponistengeneration als hoffnungslos zurückgeblieben. Spielliteratur
war, nicht zuletzt durch Adornos abfällige Bemerkungen, nicht
im Kanon der bemerkenswerten, der substanziellen Musik vertreten.
Hindemith war Thema vielleicht noch in den späten 40er-Jahren,
als sich die jungen Komponisten formierten. Dann übernahm die
Wiener Schule und ihre Reihentechnik das Kommando, die Hindemith
in seiner Tonsatzlehre vehement abgelehnt hatte – und Genzmer
folgte ihm hierbei im Wesentlichen nach. Musik dieser Art hatte
keine Konjunktur, wurde aufs Abstellgleis versetzt. Avantgarde und
Fortschritt waren Leitbegriffe, und in dieser Hinsicht konnte man
Genzmers musikalische Bemühungen nur belächeln. Man muss
sich vor Augen halten: Genzmer stand Anfang der 50er-Jahre in den
Vierzigern, war also auch noch ein relativ junger Komponist. Die
ästhetische Ausgrenzung muss ihn geschmerzt haben, wenngleich
er im Lager der Musikerziehung – auch dieser Begriff galt
im Umfeld kühner kompositorischer Fortschritts- und Freiheitsideologien
als obsolet – durchaus Anerkennung und weite Verbreitung fand.
Genzmer wurde also in die zweite Riege versetzt und hatte mit ästhetischen
Auseinandersetzungen um den Weg der zeitgenössischen Musik
allenfalls peripher zu tun. Aus dieser Position heraus blieb er
seinem Weg, seiner Vorstellung von Musik treu.
Bei Schwaen war dies ganz anders. Er war in den 50er-Jahren auf
Brecht und Eisler getroffen, schrieb zum Beispiel die Musik zum
Brecht’schen Lehrstück „Die Horatier und die Kuratier“,
und nahm an deren ästhetischen Debatten teil, die ihm auch
schon vom Berlin der frühen 30er-Jahre bekannt gewesen sein
dürften. So forderte er, gegen das starrsinnige Beharren der
Parteibürokratie auf einem reglementierten und konservativ
zurechtgestutzten Begriff des sozialistischen Realismus’,
den Ausbau der Musik hin zu neuen Techniken. Er plädierte für
größere kompositorische Elastizität. „Unsere
Musik ist reizlos; wir haben ein Fundament, aber die Obertöne
fehlen“, schrieb er damals.
Zurückpfeifen, neu justieren
Das war Grund genug für die künstlerischen Sittenwächter,
den durchaus geschätzten Kollegen einmal bei passender Gelegenheit
zurückzupfeifen und neu einzujustieren. Man fand sie unter
anderem bei der 1955 entstandenen Funkoper „Fetzers Flucht“
auf ein Libretto von Günter Kunert. Das Stück war 1959
noch vom OIR, dem gemeinsamen Rundfunkverband der sozialistischen
Länder, ausgezeichnet worden. Schostakowitsch war damals Vorsitzender
der Jury. Doch gerade hieran biss man sich, weitere drei Jahre später,
fest.
Angriff auf das Denken
Die Kritik schrieb damals: „...ohne Berücksichtigung
des gesunden Volksempfindens wird jegliche Kunstbetätigung
unweigerlich auf eisige Ablehnung stoßen, wird sie sich ins
Nichts verlieren oder, wenn sie auf diesen abwegigen Pfaden starrsinnig
weitergetrieben wird, zu einer Herausforderung, zu einem Angriff
auf das gesunde natürliche Denken und Handeln der Menschen.“
(Berliner Zeitung vom 29. Dezember 1962). Gleich zwei Mal fiel hier
der Begriff „gesund“, und diese Gesundbeter waren dafür
zuständig, dass mit der beliebten Kombination von Zuckerbrot
und Peitsche viele innovative Ansätze in der DDR auf ein gefälliges
Mittelmaß zurechtgestutzt wurden. Sah sich also Genzmer konfrontiert
mit dem Vorwurf, hinter der Entwicklung der Musik hinterherzuhinken,
so war es bei Schwaen genau umgekehrt. Der sozialistische Mensch,
so das verordnete Vokabular, bedarf nicht der angeblich künstlich
gesuchten Neuerungen, er verlangt nach geistiger Gesundheit –
und hierin war man nicht gar so weit entfernt vom Entartungsbegriff
der Nationalsozialisten (wenngleich die umgebenden Worthülsen,
hier nationale, dort sozialistische Reinheit, anders lauteten).
Neue Wendung
Noch einmal gab es eine neue Wendung mit dem Zusammenbruch der
DDR. Genzmers Ansatz blieb hierbei weitgehend unbeeinflusst. Im
Grunde schrieb er eine Musik, die über 70 Jahre über allen
politischen (und ästhetischen) Veränderungen stehend stets
den gleichen Prämissen folgte. Es ist Musik, die in ihrem stilistischen
Ansatz auf den Interpreten eingeht. Schwaen hingegen war immer wieder
zu einem Neudenken von Musik herausgefordert. Seine Stilistik entwickelte
sich an Weill, Eisler und Dessau, die Pluralität der Ansätze
ohnehin stets im ästhetischen Gepäck hatten. Das ist es,
was sich als Konstanz des Schaffens von Schwaen definiert. Er selbst
sagte es einmal so: „Noch immer bin ich nicht bereit aufzuhören.
Eine Wende ist erfolgt. Was hat sie mir gebracht? Ich bin unruhig
und neugierig wie eh und je. Ich will das Vergangene nicht vergessen,
aber hinter mir lassen, um bereit zu sein für neue Aufgaben.“