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nmz-archiv
nmz 2004/04 | Seite 1
53. Jahrgang | April
Leitartikel
Redundanzmaschine kontra Elfenbeinturm
Der Widerspruch zwischen U und E beruht auf einem Missverständnis
· Von Moritz Eggert
„Pop-Aid – ein Benefizprojekt
für die darbende Popindustrie – Ein Abend ohne Dieter
Bohlen“. So lautet der Arbeitstitel eines Konzertes für
das Festival ADEvantgarde 2005 in der Bayerischen Akademie der
Schönen Künste München. Nicht nur wegen dieses
Projekts ist Konzertmacher Moritz Eggert prädestiniert, die
aktuelle Diskussion um E und U kompetent auf den Punkt zu bringen.
Er ist gemeinsam mit Wolfgang Rihm, Enjott Schneider, Manfred
Trojahn und führenden Verlagshäusern federführend
bei der Initiative „Pro Klassik“. Die neue musikzeitung
bat ihn um eine Stellungnahme.
Die Diskussion U gegen E (oder umgekehrt) ist im Moment in aller
Munde. Während auf der einen Seite rührend betroffen der
Untergang des Abendlandes und der totale Ausverkauf an den Kommerz
beklagt wird, macht sich die andere Seite Gedanken über die
vermeintlichen Irrtümer der Neuen Musik und ergeht sich in
fehlgeleiteten Ratschlägen an die E-Komponisten, es doch einfach
mal wieder mit „gefälligeren“ Klängen zu versuchen.
Die Entwicklungen in der GEMA, bei den öffentlichen Rundfunksendern,
bei den regionalen Kulturhaushalten erwecken zunehmend den Eindruck,
dass hier ein Kampf der Ideologien geführt wird, der sich symptomatisch
durch alle Ebenen unserer Gesellschaft zieht. Dieser Kampf ist,
wie soll es auch anders sein, vor allem ein Kampf um Geld: Was sich
verkauft, was quasi auf eigenen Beinen stehen kann, hat eine Daseinsberechtigung,
was dagegen subventioniert werden muss, ist überflüssig.
Der Vorwurf an die subventionierte Kultur ist allerorten derselbe:
In einem Elfenbeinturm befände sie sich, am Publikum vorbei
schaffend, quasi als Patient am Tropf einer Gesellschaft hängend,
die sich derlei Luxus eben nicht mehr leisten kann.
Die Förderung der „ernsten“ Kultur aus der Verantwortung
der öffentlichen Hand zu nehmen ist aber nichts als eine Verlagerung
des Problems, keine Lösung. Wie tief ist eine Gesellschaft
gesunken, die von all ihren kulturellen Erzeugnissen pekuniäre
Rentabilität und sofortige Allgemeinverständlichkeit fordert?
Um die wahre Perversion solchen Denkens zu begreifen, stelle man
sich nur einen Goethe vor, der den zweiten Teil des „Faust“
nach wenigen Seiten abbrechen muss, weil die Quote wegen der Komplexität
des Sujets sinkt.
Wir brauchen aber den Freiraum, in dem sich solche Werke entfalten
und ohne kommerziellen Erfolgszwang ein Publikum finden können.
Wo dies in der europäischen Geschichte gelang, waren die Ergebnisse
großartig, sie erzeugten unsere heutige kulturelle Identität,
die jetzt auf dem Spiel steht.
Genau dies aber ignoriert die jüngste Programmpolitik der
öffentlich-rechtlichen Sender: in kleinen Häppchen wird
serviert, was eventuell zu schwer verdaulich sein könnte, man
nimmt dem Anspruchsvollen das, was uns ansprechen kann und beraubt
es damit jeglicher Wirkung. Das Publikum aber ist nur so dumm, wie
es gemacht wird. Beschwerte sich früher jemand über „zu
viel“ Kultur? Jetzt gibt es eindeutig zu wenig davon.
Es ist also an der Zeit, die Stimme zu erheben und sachlich, ohne
Weinerlichkeit und Pathos, auf das Verschwinden der Kultur in unserer
Kultur hinzuweisen. Dies ist zum Beispiel das Anliegen von „Pro
Klassik“, einer Initiative von Komponisten und Verlagshäusern,
die vor einigen Monaten ins Leben gerufen wurde. Der Name „Pro
Klassik“ ist bewusst gewählt: unter „Klassik“
kann man einerseits die gewachsene Kulturtradition wie auch deren
jüngste zeitgenössischen Erzeugnisse verstehen. Wäre
der Name „Pro E-Musik“, wären sofort die alten
Gräben wieder aufgerissen, an denen sich im Moment zum Beispiel
die GEMA zerreibt. Die Gründung solcher und ähnlicher
Initiativen hat ihren Grund in einer besonders unangenehme Wendung
der Diskussion um das Pro und Kontra von Kulturförderung: nicht
nur wird die „ernste“ Kultur zunehmend verdrängt,
es wird ihr auch noch vorgeworfen, sie sei selbst daran schuld,
ihre eigene Unvermittelbarkeit sei ihr Todesurteil. Dies sagen aber
vor allem diejenigen, die gerade dieser Kultur das Podium zerstören,
auf dem die Vermittlung bisher stattfinden konnte. Die so genannte
Spaßgesellschaft hat der Kultur den Krieg erklärt…
und da hört der Spaß auf. Tatsächlich hat sich aber
in der E-Musik der letzten 20 Jahre erstaunlich viel getan, überkommene
Klischees wurden erodiert, alte Denkmuster überwunden, ein
neues und größeres Publikum gefunden. An Talent ist kein
Mangel, und Adorno ist schon lange nicht mehr das Maß aller
Dinge.
Die Diskussion um Sinn und Unsinn der Begriffe U und E ist sicherlich
notwendig, wichtig ist es aber zu erkennen, dass der vielbeschworene
Widerspruch E gegen U auf einem Missverständnis beruht. „E“
ist nicht besser oder schlechter, sondern anders. Früher sprach
man von der leichten und der ernsten Muse, das bezeichnete keinen
Gegensatz, sondern allein eine Verschiedenheit, die das andere aber
anerkennt und respektiert. Mit der Wandlung des Pop zur Popindustrie,
die ihren Erfolg an der größtmöglichen Verbreitung,
dem niedrigsten gemeinsamen Nenner misst, setzte aber ein Verlust
der Unschuld ein: Wo kein Bedarf ist, wird er künstlich erzeugt.
Einen Großteil des Pop-Outputs braucht nachweisbar niemand
– aufgezwungene Musik allerorten, eine gigantische Redundanzmaschinerie.
Ein Hit wird nicht komponiert, sondern „produziert“.
Gleichzeitig sehnt sich die Popmusik nach den Tagen ihrer Unschuld,
nicht umsonst besteht ein Großteil des auf MTV Gezeigten aus
wiedergekäuten Hits vergangener, eindeutig inspirierterer Dekaden.
Wo aber fühlen wir uns zu Hause? Ist es wirklich das niedrigste
Niveau, auf das wir uns alle einigen müssen? Müssen wir
uns überhaupt auf ein einziges Niveau beschränken? Das
wahre Talent in der Popmusik sucht längst andere Wege, hat
seine eigene Szene. Sicherlich wäre auch hier ein Austausch
mit neuer „klassischer“ Musik denkbar, eine gegenseitige
Befruchtung wünschenswert. Es geschieht.
Und letztlich sollte es am Ende nicht E-Musik kontra U-Musik heißen,
sondern allein PRO Musik. Die Muzak aber spielt hoffentlich anderswo.