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nmz 2004/04 | Seite 3-4
53. Jahrgang | April
Magazin

Neue Texter hat das Land

Deutsche Künstler und die alte Liebe Muttersprache · Von Sven Ferchow

„Ich bin ja so verschossen/In Deine Sommersprossen“, „Tina ist das nicht prima/Wir fahren nach Lima/Was für ein Klima“ oder „Du liebst mich nicht/Ich lieb‘ Dich nicht – aha“. So texteten deutsche Künstler wie Deutsch-Österreichische Freundschaft (DÖF), Hubert K., UKW oder Trio während der letzten großen Phase deutschsprachiger Texte innerhalb der nationalen Popkultur. Textliche Qualitäten nach einer Ära der „Ton, Steine, Scherben“ und Liedermacher waren kaum gefragt. Reim Dich oder ich fress Dich.

Junge deutsche Künstler wie die Band „Etwas“ singen wieder bevorzugt in ihrer Muttersprache gegen internationale Verkaufsargumente an. Interessant ist dabei die lakonische Natürlichkeit…

Es folgte eine Generalpause bis Anfang der 90er-Jahre, in der angloamerikanische Produktionen wie Hip-Hop oder Grunge auf den Markt drängten, die vor allem das industrielle Argument vermittelten: Nur wer englisch singt, taugt für den englischsprachigen Markt und wird über diesen ein nationaler Held. Die Riege der Hip-Hopper sah das zu Beginn der 90er anders. Während in Deutschland die Gitarrenrockwelle auf ihrem Höhepunkt gleichzeitig ihren Schlusspunkt erlebte, waren es Bands wie Die Fantastischen Vier, die deutsch rappten. Und das nicht einmal unintelligent (Referenzalbum: „Vier gewinnt“/1992). Sie ebneten Bands wie Such a Surge und anderen den Weg, wieder heimatsprachlich zu werden. Von 1992 bis 2001 dominierte Deutschsprachiges nicht wirklich den Markt, das Dasein war als bequemes Polster über der Nische einzustufen. Ausnahmen wie Xavier Naidoo, Tocotronic oder Sabrina Setlur gab es als Regelbestätigungen, Stars wie Herbert Grönemeyer oder Westernhagen standen sowieso irgendwie über den Dingen.

Seit drei Jahren scheint sich jedoch wieder ein Hoch in den deutsch-deutschen Beziehungen abzuspielen. Natürlichkeit ist „in“. Viele junge Nachwuchskünstler singen wie selbstverständlich deutsch und Tonträgerfirmen geben diesen Bands und Künstlern eine faire Chance gehört zu werden. Nicht immer mit ähnlich durchschlagendem Erfolg wie bei den Echopreisträgern Sportfreunde Stiller („Die gute Seite“/2002) oder Wir sind Helden („Die Reklamation“/2003).

Nicht unschuldig an dieser Konfessionserneuerung könnte der Zustand sein, in dem sich die deutsche Sprache im Zuge der Rechtschreibreform befindet: Sie hängt in der Luft. Die siebenjährige Übergangsfrist endet am 1. August 2005, Medien und Schriftsteller revoltieren aber immer noch dagegen, und in eben diesem Schwebezustand entwickelt eine Generation junger Musiker ein neues Bekenntnis bezüglich ihrer Muttersprache. Ohne gleich einen neuen Trend auszurufen darf man feststellen, dass in den letzten 24 Monaten der Anteil deutschsprachiger Musik in den Hitparaden und den Veröffentlichungslisten der Plattenfirmen enorm gestiegen ist: Künstler wie Wir sind Helden, Wunder, Schandmaul, Blumfeld, Oomph, Sportfreunde Stiller, Rosenstolz, Montag, Die Sterne, Niels Frevert, Virgin Jetzt, Etwas, Kungfu, Silbermond, Die Springer oder Schrottfisch ziehen es – teils schon längerfristig – in der eigenen Sprache durch und werden gehört.

Herz ist Trumpf

Dass sie das auf Deutsch machen, ist nicht das Entscheidende. Die unverkrampfte Natürlichkeit scheint der interessantere Blickwinkel zu sein. Nicht mehr sozialkritisch wie der gern zitierte Jochen Distelmeyer von Blumfeld („Testament der Angst“/2001), sondern romantisch, emotional und seelenentladend. Die Sportfreunde Stiller singen weniger durch die Blume. Dafür sind sie unendliche – wenn nötig kritische – Romantiker. In einer Romantikdefiniton, die in der Generation ihrer Altersgenossen existiert: „Ich wollte dir nur mal eben sagen, dass du das Größte für mich bist“ (aus dem Song „Kompliment“). Unpathetisch, lakonisch.

Stadt, Land, Pop: die Gruppe Garish (li.) auf einem Ausflug in der freien Natur.
Foto: nmz-Archiv

Doch warum kam es überhaupt zu einem vorübergehenden Stillstand? Warum haben die deutschen Künstler zeitweise (1985 bis ‘92 und 1995 bis ‘99) mit wenigen Ausnahmen aufgehört sich in ihrer Muttersprache auszudrücken? Gab und gibt es Phasen des mangelnden Selbstvertrauens? Sind Gefühle, die man mit, in und durch Musik verarbeiten will auf deutsch unangenehmer? Formuliert man seine Psyche deshalb in einer anderen Sprache oder hatte man jahrelang einfach nichts zu sagen?

Axel Horn, Bassist von Such A Surge („Under Pressure“/1995) über seine Erfahrungen trotz des Makels eines englisch-sprachigen Albumtitels: „Englische Lyrics sind oft tausend mal belangloser als deutsche. Ich frage mich, wie Amerikaner es aushalten, sich den Müll im Radio anzuhören. Im Deutschen legst du alles offen, es hat viel mit Selbstbewusstsein zu tun. Jeder versteht jedes Wort. Gerade wenn es um Gefühle geht, ist es einfacher sich in seiner Muttersprache auszudrücken als in einer Fremdsprache. Ich habe jedem Interviewer, der mich fragte, warum wir nur noch deutsch singen, eine Gegenfrage gestellt: ‚Weißt Du, was Fremdkörper auf englisch heißt‘“? Eine berechtigte weil begründende Frage. Martin Fuchs, Schlagzeuger der Newcomerband Die Springer („Musik von Welt“/2003), hat Ähnliches beobachtet: „Wenn man englische Songs übersetzte, würden die Texte zu 95 Prozent nach Schlager klingen. Es ist schwieriger deutsche Lyrik zu schreiben, so dass der Sinn ‘rüberkommt und die Worte schön klingen. Es ist eine Herausforderung. Englisch zu schreiben ist dagegen ein Witz.“

Learning Deutsch trotz Globalisierung

Gut. Selbst wenn aber das Übersetzungsproblem und das eigene Ego kontrollierbar sind, stellt sich ein anderes, von Martin Fuchs angedeutetes Problem: Es wird immer wieder behauptet, die deutsche Sprache sei rhythmisch nicht gut singbar, die Wörter könnten nicht so klingen wie im Englischen. Alenka Barber-Kersovan, Lehrbeauftragte am Musikwissenschaftlichen Institut Hamburg und Geschäftsführerin im Arbeitskreis Popularmusik, bestätigt die klanglichen Schwierigkeiten der deutschen Sprache: „Das Text-Musik-Verhältnis ist sehr eng. Selbst wenn die Sprache verzerrt wird, ist die deutsche Sprache aufgrund der Betonung und der vielen Konsonanten erkennbar. Sie hat im Vergleich zum Italienischen wenige Vokale. Vokale lassen sich aber gut singen, Konsonanten nicht. Das schlägt auf die Melodie und auf den Rhythmus.“

„Das sind Alibis“, hält Axel Horn dagegen. „Ich führe es darauf zurück, dass die Künstler, die auf Englisch beharren, sich weiterhin verstecken wollen, weil Deutsch einfach mehr offenbart als Englisch. Im Umkehrschluss müssten wir alle französisch singen, denn das klingt am weichsten.“ Darüber hinaus muss man sich vergegenwärtigen, dass Englisch ein internationaler Globalisierungs-Klang ist, dem man nur schwer ausweichen kann. „Mit der voranschreitenden Globalisierung, die auch als Amerikanisierung wahrgenommen wird“, so Alenka Barber-Kersovan, „werden immer mehr englische Wörter übernommen. Das hat mit der globalen Vernetzung und mit sozialen Verschiebungen aus der kleineren Einheit wie Stadt, Region oder Staat auf eine internationale Gesellschaft zu tun. Man kann es als ‚Kulturimperialismus‘ sehen oder als eine Sache der Pragmatik. Wenn ein finnischer mit einem slowenischen Popmusikforscher kommunizieren will, spricht er englisch. Daneben gibt es noch den Marketingaspekt. Es gibt aktuell fünf große Plattenkonzerne, die weltweit Absatz machen. Und den können sie nur auf dem englischsprachigen Markt machen.“

Die Sportfreunde Stiller vor Großstadtkulisse. Fotos: nmz-Archiv

Dass diese These zumindest im Ansatz wackelt, meint Axel Horn, der auf die Erfahrungen der Vergangenheit hinweist: „Welche einheimischen Bands hatten denn internationalen Erfolg? Das waren Bands, die deutscher denn deutsch waren: Kraftwerk, Rammstein, Nena oder Die Toten Hosen. Die einzige Band, die Jahrzehnte lang mit englischen Lyrics internationale Erfolge hatte, waren die Scorpions aus Hannover. Neulich meinte ein Plattenfirmenchef zu mir: ‚Ich kann es nicht mehr hören, wenn hier junge Musiker ankommen, die sagen, sie müssen Englisch singen, weil sie auf den internationalen Musikmarkt wollen. Die schmeiß’ ich sofort wieder raus. Die Scheiße kann ich nicht mehr hören!‘“

Damit spricht der Tonträgerboss dem Musiker Horn, der gleichzeitig Manager von Such A Surge ist, aus dem Herzen, denn ihnen war die Sprache immer egal, wenn es um den Erfolg der Band ging. „Hauptsache, sie berührt einen“, unterstreicht Axel Horn noch einmal. „Wir haben am Anfang mehr englische Texte gehabt und Europatouren gespielt, dann mehr deutsche und haben immer noch Europatouren gespielt. Man muss nicht Englisch singen, um international erfolgreich zu sein.“

Die goldenen Vorreiter

Die Hip-Hopper waren es, die zu Beginn der 90er die eigene Sprache in einem neuen Maße wiederentdeckten. „Vor zehn bis zwölf Jahren gab es einen Ruck durch die Fantastischen 4“, erinnert sich Staab, der Manager der deutschsprachigen Retro-NDW-Band Mia („hieb & stichfest“/2003). Als Wegbereiter bestellten sie das Feld für die Nachkommen, die seit drei Jahren den Fokus verstärkt auf die deutschsprachige Musik richten. Von einem Trend will Axel Horn indes nichts wissen: „Ich sehe das als normale Entwicklung und nicht als Trend. Wir haben mit ‚Such A Surge‘ viele Generationen lang unter dem Joch der Vergangenheit existiert. Man war sehr vorsichtig mit der deutschen Sprache, weil man gleich mit Deutschtum identifiziert wurde, nicht einfach mit dem Land, in dem man lebt. Ich bin nicht stolz Deutscher zu sein. Deutsch ist aber das Land und die Kultur, in der ich lebe. Ich bin mit Deutsch aufgewachsen. Es ist generationsmäßig an der Zeit, dass die Entwicklung beginnt. Durch junge Bewegungen, insbesondere durch den deutschen Hip-Hop, wurde und wird alles aufgebrochen. Er wird von vielen Nationalitäten getragen, gerade aber nicht ausnahmslos von Türken. Diese Generation hat die Klischees und Türen aufgesprengt. Die deutsche Sprache hat sich weiter etabliert und eine Daseinsberechtigung in allen musikalischen Formen. Darum ist es kein Trend, sondern eine logische Entwicklung einer neuen, jungen Generation, die versucht sich freizuschwimmen. Es liegt auch an uns, bestimmte Themen ironischer und humorvoller anzufassen, um ein bisschen den Stock im Arsch aufzubrechen. Wir wissen alle, dass die Vergangenheit dunkel und böse war, aber es kann nicht sein, dass wir uns gerade künstlerisch unterjochen und davor weglaufen. Jahrzehnte lang hat man sich geschämt und die Tür zugeschlagen.“

Ob nun Trend oder Entwicklung, die deutsche Sprache scheint gar nicht mehr so unwegsam zu sein. Junge Künstler haben die Vorzüge der deutschen Sprache für sich entdeckt und wissen sie zu nutzen. Für diese Bands sind Texte nicht zweitrangig. Es geht darum, sich unverblümt an die Audienz zu richten. Axel Horn drückt es energischer aus. „Unserer Ambition war es Anspruchsvolles zu präsentieren. Nicht über schnelle Autos, dicke Titten und weiße Wände zu singen“. Themen, die in der anglo-amerikanischen Popwelt keine Seltenheit sind, aber durch die Floskelhaftigkeit der englischen Sprache relativ verharmlosend transportiert werden. Manager Staab schlägt in die gleiche Kerbe: „Deutsch ist viel schneller und direkter. Wenn ich deutschsprachige Musik höre, trifft sie mich mehr als englische, denn Englisch ist nicht meine Muttersprache.

Transportieren – Reduzieren

Prinzipiell logisch. Wer Deutsch singt, kann dem Zuhörer wesentlich mehr Aufmerksamkeit abfordern. Die Texte schleichen sich zunächst unauffällig in die Gehörgänge und man nimmt nur passiv Wortbrocken wahr. Doch sie verfangen sich im Kopf. Früher oder später hört man genauer zu, muss sich aber nicht so konzentrieren, weil es keine Fremdsprache ist. Selbstverständlich gibt es in den verschiedenen Genres unterschiedliche Textlastigkeiten. Gitarrenbands, Liedermacher (neudeutsch: Songwriter) oder Hip-Hopper legen Wert darauf, etwas zu transportieren. Bei anderen steht allein die Musik im Vordergrund, der Text ist weder relevant noch muss er verstanden werden, wie das etwa in der in der Technoszene der Fall ist. Man beschränkt sich auf eine einzige verbale Botschaft: „Move your Body“, die alles oder nichts bedeuten kann.

Immer schön cool und lässig bleiben: Such a Surge – „Im Deutschen legst du alles offen…“. Foto: Archiv

Es kommt also darauf an eine Entscheidung als Künstler zu treffen, ob man transportieren oder reduzieren möchte. Konzentration sollte man denjenigen schenken, die Musik auf verbaler Ebene nutzen, um ihre Botschaft rüberzubringen. Such a Surge haben sich bewusst für Deutsch entschieden, erinnert sich Axel Horn: Auslöser war ein Missverständnis mit dem Text von „Against the Stream“, „den nicht alle so begriffen wie wir das beabsichtigt hatten“. Dieses zweifelsfreie und präzise Mitteilungsbedürfnis ist auch Günter Wimmer (Sänger der Band Die Springer) Antrieb genug, die deutsche Sprache einzusetzen: „Jeder versteht, was wir singen. Die deutsche Sprache ist kantiger, es ist schwieriger Gutes zu schreiben, aber gerade das sagt etwas aus“.

Gleiche Themen, andere Sprache

Vergleicht man die Texte der Rock-Hip-Hopper Son Goku („Crashkurs“/2002), mit denen der alternativen Gitarrenband Sportfreunde Stiller, stellt man Unterschiede bei ähnlichen Botschaften fest. Sänger Thomas D. beschreibt die Situation der Gesellschaft. Die Werte der Menschen verschieben sich. Er adressiert den Zuhörer direkt, fordert ihn auf, bei sich selbst anzufangen, um die Welt zu etwas Besserem zu machen. Ernst und ermutigend zugleich wird gefragt:

„Ist das dein Leben? Karriere und Motivation?/Und das debile Gerede und Manipulation./Und eine Lüge für jede Lebenssituation./Und den Betrug. Befehle durch Desillusion./Ist das dein Leben? Es ist alles in dir! Du bist am Leben!“

Die Sportfreunde Stiller hingegen erinnern sich an schöne Erlebnisse und Alltagssituationen. Weniger offensiv aber dennoch (selbst-) kritisch singen sie über die Gesellschaft. Bestimmte Werte werden betont. Zum Beispiel im „Heimatlied“, in dem auch ein augenzwinkerndes Faust-Zitat nicht fehlen darf:

„Es kommt mir hier so vor, so ähnlich wie nach dem perfekten Tor,/wie nach ’ner langen Fahrt zurück, wie Liebe auf den ersten Blick,/wie nach ’nem heißen Tee an ’nem kalten Wintertag, wie ’ne gute Idee, wenn ei’m lange nichts, lange nichts mehr einfall’n mag,/denn hier, denn hier bist du Mensch, hier darfst du’s wirklich sein/Und das schöne daran ist, dass ich’s jeden Tag sehen kann.“

Es wird nach einem Platz in der Gesellschaft für die Jugendlichen, für jeden gesucht. Ein Raum, in dem jeder seine Interessen preisgeben kann. Eine Formation, die seit knapp einem Jahr nicht nur musikalisch auffällt, sondern insbesondere durch witzige, intelligente und in gleichem Maße konsumkritische Lyrik, ist Wir sind Helden aus Berlin:

„Meine Stimme gegen ein Mobiltelefon. Meine Fäuste gegen eure Nagelpflegelotion. Meine Zähne gegen die von Dr. Best und seinem Sohn. Meine Seele gegen eure sanfte Epilation.“

„Wir-sind-Helden“-Manager Christof Ellinghaus über Sängerin und Texterin Judith Holofernes: „Sie hat einen poetischen, realistischen und wortgewandten Umgang mit der deutschen Sprache, den sonst im Moment niemand so herzerfrischend pflegt. Der Text ist nicht kopflastig, aber auch nicht belanglos, nicht anstrengend und niemals peinlich. Die Helden könnten das nicht auf englisch, das ist nicht ihre Muttersprache, das ist ja der Mutterwitz, der in der Sprache ist.“

Neben Mutterwitz, Konsumschelte und Gesellschaftskritik nehmen insbesondere jüngere Künstler neue Themen auf. Die Hamburger Band Mon)tag („Gefallen“/2003) singt in ihrem schwermütigen Song „Zu Besuch“ sprachlich lapidar aber mit unheimlichem Tiefgang über Trennung, Verweilen, Festhalten, Loslassen:

„Wie die Sonne untergeht, wie das alles sich so dreht… wir sind doch alle zu Besuch/Ich sag „o.k., das war’s“, ich geh jetzt zu Mum und esse Nudeln im Gras… Und sie wird das alles hier verstehen“

Von der hermetischen Abriegelung oder dem anbiedernden Pathos eines Naidoo, Grönemeyer oder Westernhagen sind diese Texte weit entfernt. Mon)tag bleiben am Boden. Klare Worte, verständliche Themen, kein Rätselraten, ohne Umstände angesprochen. Niels Frevert („Seltsam öffne Dich“/2003), einst erfolgreicher Popvorreiter mit der Band Nationalgalerie, definiert Zustände praktikabel:

„Und eine Ewigkeit scheint so lange wie eine Einwegfeuerzeugstichflamme“ (aus dem Song „Einwegfeuerzeugstichflamme“) – „Du bist was Du isst – Glückskeks“ (aus dem Song „Glückskeks).

Dass Judith Holofernes, Mon)tag, Niels Frevert und andere aber so weit kamen, haben sie einer zeitlichen Komponente zu verdanken. Meint zumindest Sabine Ganske, A&R Managerin von „2raumwohnung“ („Kommt zusammen“ 2001): „Die ersten deutschsprachigen Bands im weiten Bereich der Popmusik hatten es besonders schwer. Mit Bands wie Die Sterne („Irres Licht“/2002) und Blumfeld oder jetzt 2raumwohnung und Wir sind Helden, hat die deutschsprachige Popmusik eine größere Akzeptanz gefunden“. Akzeptanz, die laut Alenka Barber-Kersovan wieder auf das Thema Globalisierung verweist: „Es herrscht zwischen den vielen kulturellen Möglichkeiten reger Austausch. Auf der anderen Seite kommt es aber auch zur Nivellierung und zum Gegenmechanismus: die krampfhafte Suche nach der kulturellen Identität. Diese transportiert sich stark durch die Sprache, nach dem Motto: die Bands singen nicht Deutsch und das finden wir nicht gut“.

Völlig losgelöst

Leider weiß die Major-Industrie trotz steigender Tendenz nicht wirklich, wie sie mit den muttersprachigen Künstlern umgehen soll. Zwar räumt man ihnen Platz in den Finanzbudgets ein, doch konsequent gefördert werden die wenigsten. Für die Tonträgerfirmen ist es dagegen von Bedeutung, Kopien der aktuellen Entwicklung zu finden, denn das funktioniert bereits und muss nicht groß aufgebaut werden. Das hat Christof Ellinghaus beobachtet: „Es gab immer viele deutschsprachige Bands, die jetzt in einer Welle der Dummheit und Ignoranz der Majorlabel nach oben gespült werden. Jetzt wird von vielen Songwritern bei Verlagen angefragt, ob sie irgendwelche Autoren hätten, denn sie bräuchten Texte wie die von ‚Wir Sind Helden‘ für ihre Band. Die ist dann nach dem Vorbild der ‚Helden‘ gecastet, die Sängerin hat ein hübsches Gesicht, kann aber nur ein bisschen singen und verfügt über leidliches Talent. Das ist die übliche Reaktion, wenn etwas aus dem Nichts kommt und funktioniert. Dann denkt die Musikindustrie: „Oh, das ist die Wiedergeburt, so was brauchen wir auch“. Auf Dauer werden sich Kopien von Bands und deren Musik aber kaum verkaufen lassen. Wichtiger ist – und das zeigen die Ansichten von Axel Horn, Staab, Christof Ellinghaus und allen anderen Befragten –, dass zunächst einmal die Künstler entscheiden müssen, in ihrer Muttersprache zu singen und zu texten. Globalisierung, Gesellschaft, internationaler Markt, Geschichte, Selbstbewusstsein oder Kopie spielen eine Rolle. Aber auch nur in dem Maße, wie man als Künstler bereit ist, das zuzulassen. Seit drei Jahren wächst wieder eine Flora und Fauna der deutschsprachigen Musik. Einige Früchte sind schon da, nur der nahrhafte Boden fehlt. Vielleicht ist das System noch nicht ganz kaputt. Der Countdown läuft…

Sven Ferchow, unter Mitarbeit von Nora Klopp

 

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