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nmz-archiv
nmz 2004/04 | Seite 15-16
53. Jahrgang | April
Musikwirtschaft
Auf der Harley Davidson durch Bachs Toccata
In der Schweizer Orgelbaufirma Kuhn entsteht die Orgel für
Essens neue Philharmonie · Von Thomas Otto
Noch klafft an der Stirnseite des Alfried-Krupp-Saales über
der hell getäfelten Bühne, oberhalb der Tribüne eine
Lücke. Schon bald jedoch wird sie geschlossen. In schöner
Harmonie mit der Ausstattung des Saales wird sich dann in die Höhe
recken, was zugleich auch ein unverwechselbares akustisches Markenzeichen
der Philharmonie Essen sein wird: die neue Konzertorgel.
Ihr Geburtshaus, die Orgelbaufirma Kuhn, ist in dem kleinen Schweizer
Ort Männedorf am Züricher See gelegen. Hierher hatten
die Schweizer kürzlich zu einer Visite geladen. Unter den Gästen
waren Intendant Michael Kaufmann, sowie Dr. Ulrich Unger von der
Alfred und Cläre Pott-Stiftung, die sich die Förderung
von Wissenschaft, Kunst und Kultur, von kirchlichen und sozialen
Zwecken zur Aufgabe gemacht hat. Durch ihr finanzielles Engagement
wurde die Idee einer neuen Orgel für die Essener Philharmonie
überhaupt erst zur Realität. Auch die Organisten Eckart
Manz von der evangelischen Kreuzeskirche und Jürgen Kosara
von der Essener Domkirche wollten sich den Blick in die Werkstatt
nicht entgehen lassen. Beide gehören der Orgelkommission an,
die im Vorfeld berufen wurde, um Konzeption und Auftragsvergabe
vorzubereiten.
Intendant Michael Kaufmann
und seine Orgel. Fotos: Thomas Otto
Es ist heiß in der kleinen Schmiede. Immer wieder wird das
flüssige Zinn im Kessel über der Feuerstelle gerührt
und schließlich mit einer langen, golden glänzenden Kelle
in ein kleineres, fahrbares Becken geschöpft, während
im Raum nebenan die Vorbereitungen für den Guss getroffen werden.
Noch fällt es schwer, sich das vorzustellen, aber hier entstehen
Orgelpfeifen...
Arbeitsalltag in der Gießerei, einer der vielen Werkstätten
der Orgelbauer von Männedorf. Wir verlassen die Gießerei
und folgen Dieter Utz, einem der drei Geschäftsführer,
verantwortlich für die Gesamtleitung und den Bereich Orgelpflege,
auf seinem kurzen historischen Exkurs durch die Geschichte der Firma
Kuhn.
Seit 1864, als Firmengründer Johann Nepomuk Kuhn in seiner
Werkstatt am Züricher See die erste Orgel baute, entstanden
bis heute etwa 1.400 neue Instrumente. Das sind durchschnittlich
zehn pro Jahr. „Es gab Zeiten, da war der Ausstoß wesentlich
höher“, erzählt Dieter Utz. „Nach dem Krieg
zum Beispiel war die Nachfrage so groß, dass hier bis zu 20
Orgeln jährlich gebaut wurden.“ Seit jener Zeit etwa
gehört auch das Restaurieren zur Produktionspalette der Firma
Kuhn. „Bei der Restaurierung“, erklärt Dieter Utz,
„soll die historische Substanz erhalten bleiben und gleichzeitig
eine musikalisch überzeugende Funktion der Instrumente gewährleistet
werden.“ 125 Orgeln wurden bislang mit diesem hohen Anspruch
wieder hergerichtet.
Ein weiterer Service, den die Firma bietet, ist die Orgelpflege.
Betreut werden Instrumente aller Stile und Trakturaten. Ziel ist
eine langfristige Werterhaltung „Da denken wir wirklich in
Jahrzehnten“, schmunzelt Utz. „Ich hab manchmal das
Gefühl, wir sind in der heutigen Zeit damit völlig weltfremd...“
In den letzten vierzig Jahren wurde das Orgelbauunternehmen über
die Landesgrenzen hinweg aktiv: inzwischen spielt man in Portugal,
Norwegen, Holland, Italien oder Südtirol sogar in der Tokioter
Opera City Concert Hall auf Kuhn-Orgeln. Heute hat die Firma 50
Mitarbeiter, darunter Orgelbauer von verschiedenen Fachbereichen
wie Neubau, Pflege, Intonation, drei Orgelbaumeister, Zinnpfeifenmacher,
Zimmerleute. Natürlich denkt man in Männedorf auch daran,
das Gewerk am Leben zu erhalten – zum Team gehören auch
fünf Lehrlinge.
Die nächste Station unseres Rundgangs ist die Montagehalle.
Hier wächst das Gerüst der neuen Orgel. Der Spieltisch
ist bereits angebracht, die ersten Holzpfeifen sind montiert. Schon
bekommt man eine Ahnung von der Größe des Instruments,
die lapidar mit 300 Kubikmetern beziffert wird. Dieter Rüfenacht,
der zweite Geschäftsführer, in dessen Händen die
Verantwortung für den Orgelneubau liegt, macht uns mit dem
Klangkonzept der zukünftigen Essener Orgel vertraut: es wird
zuallererst entwickelt, um sich dann wie ein roter Faden durch die
gesamte Arbeit zu ziehen. Nicht die architektonische Gestalt der
Orgel steht am Anfang, sondern die Idee von ihrem Klang.
Dazu braucht es Experten. Das sind zumeist Organisten mit ihren
ganz konkreten Erfahrungen, aus denen sie ihre Ansprüche formulieren.
„Wir Orgelbauer wiederum haben unsere Idealvorstellungen und
Ideen“, erklärt Dieter Rüfenacht.
Die jahrhundertealte Entwicklung der Orgel brachte ganz verschiedene
Stile hervor: französische Klassik, französische Romantik,
deutsche Klassik, deutsche Romantik – es gibt die epochalen
Unterschiede ebenso wie die regionalen. „Man muss sich also
zuerst darüber klar werden: wo wird die Orgel stehen, wozu
soll sie vorrangig eingesetzt werden?“, meint Rüfenacht
und ergänzt: „Was die kulturellen Unterschiede betrifft
– wir hier, mitten in Europa, haben so eine gute Mischung
aus allem und das hat auch Tradition bei uns.“
Bereits im Entwurf einer jeden Orgel, der auch schon erste Konturen
erkennbar macht, müssen wichtige Gesetzmäßigkeiten
berücksichtigt werden: die Pfeifen müssen, sollen sie
gut klingen, an einem ruhigen Ort stehen. Einmal gefertigt lassen
sie sich nicht mehr variieren. Jede Pfeife bringt einen festen Ton
hervor – sie alle zu einem harmonischen Miteinander zu vereinen,
das ist die große Kunst.
In der benachbarten Zimmerei werden die Windladen und die Luftschächte
für die Essener Orgel zusammengeleimt, die ersten Pfeifen werden
intoniert, daß heißt, ihr Ton wird so verändert,
dass er im Zusammenspiel aller Orgelpfeifen tatsächlich harmonisch
klingt.
Der richtige Zeitpunkt, auf das Klangkonzept des hier entstehenden
Instruments zu sprechen zu kommen: Die Essener Philharmonie bekommt
eine sinfonische Orgel. Neben den vier Hauptwerken wird sie mit
gleich zwei Schwellwerken ausgestattet, die eine sehr große
Dynamik im Spiel zulassen, was die musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten
des Instruments enorm erweitert. Kuhn-Orgeln, betont Dieter Rüfenacht,
sind Unikate.
Bei der Zusammenarbeit mit den Architekten gehen diese natürlich
unbelastet von den Problemen der Orgelbauer an ihre Planung und
Gestaltung. Für sie sind äußerliche Zusammenhänge
vorrangig, etwa die gestalterische Einheit von Orgeln und Räumen.
„Aber gerade deswegen arbeiten wir gern mit Architekten zusammen,“
bekräftigt Rüfenacht, „weil uns ihre unvoreingenommene
Sicht manchmal vor Herausforderungen stellt, deren Lösungen
uns neue Ideen abverlangen.“ Wie zum Beispiel die Essener
Orgel.
Irgendwann stellte sich heraus, dass für das Tuba-Register
kein Platz sein würde, weil die Orgel eine bestimmte Tiefe
nicht überschreiten durfte. Was also tun, darauf verzichten?
Unmöglich! Das Klangkonzept würde völlig aus den
Fugen geraten. Die Lösung war so ungewöhnlich wie originell:
man konzipierte das Register kurzerhand unter der Orgelbank, und
zwar so, daß die Schalllöcher direkt ins Publikum weisen.
– Das könnte sogar Einfluß auf die Frisuren der
Orchestermusiker nehmen, witzeln die Männedorfer. Und auch
der Organist käme auf seine Kosten: die Schwingungen seiner
Bank könnten ihm durchaus das Gefühl vermitteln, Bachs
Toccata und Fuge d-moll auf einer röhrenden Harley Davidson
anzusteuern!
Wir sind zurück in der Gießerei. Inzwischen hat das
Zinn im kleinen Kessel die richtige Temperatur erreicht. Zügig
in eine spezielle Vorrichtung gegossen, kühlt es schon wenige
Augenblicke später auf dem langen Tisch als dünnwandiges
Blech aus. Wenn es später auf die richtige Stärke gebracht,
gebogen und verlötet sein wird, dann ist dies eine weitere
der 4.502 Pfeifen einer Orgel mit insgesamt 62 Registern und rund
2.500 verschiedenen Registermischungen. Aber zuvor sind noch viele
Arbeitsschritte zu bewältigen, wie die Installation der Elektronik
oder die Fertigung der Verkleidung.
Wenn sie dann schließlich in der Montagehalle komplett montiert
und aufgebaut ist, wird die Orgel wieder in alle ihre Einzelteile
zerlegt, die für den späteren Wiederaufbau genauesten
registriert werden. Gut sortiert und verpackt wird die Orgel dann
ihre erste und hoffentlich letzte Reise antreten: nach Essen, in
den Konzertsaal der Philharmonie.
Zu den ersten, die „ihre“ neue Orgel dort in einem
Konzert mit großem Orchester erleben, werden übrigens
die Orgelbauer selbst gehören: die Firma Kuhn verlegt ihre
Feier zum 140. Geburtstag von Männedorf nach Essen. So kommen
auch gleich noch die Jubiläumsgäste auf ihre Kosten. Dergleichen,
so Dieter Utz, sei eigentlich für eine Firma unerschwinglich.
In diesem Fall haben sich die Männedorfer mit der Philharmonie
geeinigt: ein Dankeschön für die exzellente Lösung
mit der „Harley-Bank“, die sonst mit zusätzlichen
Kosten verbunden gewesen wäre. In Essen ist man ebenfalls zufrieden.
Intendant Michael Kaufmann: „Orgelbauer, Orgelgemeinde und
die neue Orgel auf einem Fest – wir fanden den Vorschlag so
unwiderstehlich, dass wir gar nicht anders konnten, als darauf einzugehen!“