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nmz-archiv
nmz 2004/04 | Seite 37
53. Jahrgang | April
Rezensionen
Paraphrasen auf sattsam bekannte Handlungen
Halbzeit für den Stuttgarter „Ring“ auf DVD
Als „Ring für das neue Jahrtausend“ wird –
nach dem auf DVD wiederveröffentlichten „Bayreuther Jahrhundert-Ring“
in der Inszenierung von Patrice Chéreau – der „Ring“-Zyklus
der Staatsoper Stuttgart von Euroarts, TDK, SWR und Arte beworben.
In der Tat hat seit der Centenarinszenierung der Bayreuther Festspiele
keine andere Produktion von Richard Wagners Bühnenfestspiel
für drei Tage und einen Vorabend so viele Kontroversen ausgelöst
und letztlich so viel Lob geerntet wie dieser von Intendant Klaus
Zehelein bewusst auf vier Regieteams verteilte „Stuttgarter
Ring“, mit der erklärten „Ästhetik der Verausgabung“
in jedem Teil der Tetralogie.
Den Vorabend siedelt der Schweizer Choreograph Joachim Schlömer
im Einheitsraum einer Trinkwasseranstalt an, – mit Bezug auf
Adliswil in der Schweiz, wo Wagner sich zur Zeit der „Ring“-Konzeption
einer Kur unterzogen hat. In der geschlossenen Anstalt gibt es für
die heutig gewandeten und agierenden Personen im fatalen Mit- und
Gegeneinander der Geschäftswelt kein Entrinnen.
Donner hat zwar noch einen kleinen Hammer, aber Wotan verfügt
über keinen Speer mehr; anstelle des Riesenwurms hält
Alberich ein zitterndes weißes Kaninchen in Händen, Freia
empfindet Gegenlieb für den „Riesen“ Fasolt, und
die Rheintöchter sind die bestohlenen Bediensteten der Wasseranstalt.
Korruption und Verrat herrscht zwischen Geschäftsleuten, bis
die Götter das Santorium durch ein Kanalsystem zu verlassen
suchen (und damit wie bereits in Wieland Wagners Inszenierung des
Jahres 1965 in eine weitere Zwangsbehausung hinabsteigen). Doch
dieser Fluchtweg erweist sich in den letzten Takten als ein Irrweg,
der wieder an den Ort des Geschehens zurückführt.
Ungewohnte Bilder und Aktionen auch in Christof Nels Inszenierung
der „Walküre“: Karl Kneidls karger Bühnenraum
verzichtet auf „romantische“ Utensilien. Siegmund, im
Trainingsanzug, leckt Sieglinde bei seinen Worten „Ein Quell“
an der Scham. Sichtbar mischt Sieglinde das Gift in den Schlaftrunk
ihres Gatten. In Ermangelung der Esche zieht Siegmund Nothung aus
den Armen seiner Schwester, ein unverhohlener erotischer Akt, wie
überhaupt der erste Aufzug vor Geilheit der entwöhnten
Geschwister überbordet. Im zweiten Akt lümmelt Wotan auf
einer Luftmatratze inmit-ten von Heldenstatuetten-Miniaturen. Statt
des Speeres hält er eine Weidenrute in Händen.
Nach der Todverkündung küsst die abgehärmte Brünnhilde
den Halbbruder Siegmund lange auf den Mund. Siegmund hinterlässt
der schlafenden Sieglinde eine Notizzettel-Nachricht. Den Zweikampf
bestreiten übergroße Puppen, während der Zuschauer
die Sänger durch die vom Komponisten vorgeschriebenen Sprachrohre
singen sieht. Erst nach dem Abgang Brünnhildes mit Sieglinde
erdolcht Hunding den waffenlosen Siegmund. Beim Walkürenritt
fahren Heldenpuppen über ein Förderband, kommentiert von
den Pinup-Walküren mit Pappflügeln an den Armen und ebenfalls
mit Sprachrohren. Wotan verfolgt seine Töchter auf dem TV-Bildschirm.
Auch mit Brünnhilde, die sich in einem anderen Raum befindet,
verhandelt er mehr medial als realiter, so dass er schließlich
statt der Tochter den Monitor umarmt und küsst. Statt des Feuerzaubers
brennen ein paar armselige Kerzen auf jenem Tisch, auf dem der Kopf
der schlafenden Brünnhilde gesunken ist, während Wotan
die potenziellen Freier mit einem fahrbaren Verfolger in Schach
hält.
Der Live-Charakter der von der TV-Regie in zahlreichen Nahaufnahmen
und raschen Schnitten sowie akustisch Dolby Digital eingefangenen
Produktion bestätigen auch einige Rhythmus- und Textfehler
der Solisten. Aber das musikalische Gesamtniveau bewegt sich auf
sehr hohem Qualitätslevel. Überdurchschnittliche Sängerleistungen
bieten bereits das Terzett der Rheintöchter mit Catriona Smith
(Woglinde), Maria Theresa Ullrich (Wellgunde), Margarete Joswig
(Flosshilde), der Fasolt von Roland Bacht und der Loge von Robert
Künzli. In der „Walküre“ ist Angela Denoke
eine stimmlich und darstellerisch exzellente Sieglinde, Robert Gambill
ein beachtlich kraftvoller und strahlender Siegmund, Renate Behles
verhärmte, aber selbstsichere Brünnhilde läuft, wie
auch Jans-Hendrik Rooterings Wotan, erst im dritten Aufzug gesanglich
zur Hochform auf.
Das Bindeglied zwischen den amorph monolithischen, szenischen
Deutungen der vier Abende ist das von Lothar Zagrosek mit der Fähigkeit
zu großen Steigerungen sicher geleitete Stuttgarter Staatsorchester,
das – in langjähriger Tradition unter anderem als Wieland
Wagners „Winter-Bayreuth“ – für das häufig
gewöhnungsbedürftige Bühnengeschehen den tragenden
Unterbau schafft.
Peter P. Pachl
Richard Wagner: Das Rheingold; Wolfgang Probst (Wotan),
Motti Kastón (Donner), Bernhard Schneider (Froh), Robert
Künzli (Loge), Esa Ruuttunen (Alberich), Eberhard Francesco
Lorenz (Mime), Roland Bracht (Fasolt), Phillip Ens (Fafner), Michaela
Schuster (Fricka), Helga Rós Indridadóttir, (Freia),
Mette Ejsing (Erda), Catriona Smith (Woglinde), Maria Theresa
Ullrich (Wellgunde), Margarete Joswig (Flosshilde), Staatsorchester
Stuttgart, Lothar Zagrosek; Regie: Joachim Schlömer, Bildegie:
János Darvas, Thorsten Fricke
TDK (2 DVDs) DV-OPRDNR
Richard Wagner: Die Walküre; Robert Gambill (Siegmund),
Attila Jun (Hunding), Jan-Hendrik Rootering (Wotan), Angela Denoke
(Sieglinde), Renate Behle (BrünnhiIde), Tichina Vaughn (Fricka),
Eva-Maria Westbroek (Gerhilde), Wiebke Göetjes (Ortlinde),
Stella Kleindienst (Waltraute), Helene Ranada (Schwertleite),
Magdalena Schäfer (Helmwige), Nidia Palacios (Siegrune),
Maria Theresa Ullrich (Grimgerde), Margit Diefenthal (Rossweiße);
Staatsorchester Stuttgart, Lothar Zagrosek, Regie: Christoph Nel;
Bildregie: Janos Darvas, Thorsten Fricke
TDK (2 CDs) DV-OPRDNW
Richard Wagner: Siegfried; Jon Fredrick West (Siegfried)
Heinz Görig (Mime, Wolfgang Scgöne (Wanderer) u.a.;
Staatsorchester Stuttgart, Lothar Zagrosek; Regie: Jossi Wieler
Dramaturgie: Sergio Morabito, Ausstattung. Anna Viebrock, Bildregie:
János Darvas, Thorsten Fricke
TDK (2 DVDs) DV-OPRDNS
Der Frage, ob „Siegfried“ in der Vierteilung des in
Stuttgart sehr bewusst auf vier Regieteams aufgeteilten „Ring
für das neue Jahrtausend“ als Scherzo anzusehen ist,
beantwortet die Inszenierung von Jossi Wieler (für Regie und
Dramaturgie stets als Team gemeinsam mit Sergio Morabito genannt)
sehr drastisch. Eine sehr böse Comedy. Das musikalische Gesamtniveau
bewegt sich auf sehr hohem Qualitätslevel. Überdurchschnittliche
Sängerleistungen bieten bereits das Terzett der Rheintöchter
mit Catriona Smith (Woglinde), Maria Theresa Ullrich (Wellgunde),
Margarete Joswig (Flosshilde), der Fasolt von Roland Bacht und der
Loge von Robert Künzli. In der „Walküre“ ist
Angela Denoke eine stimmlich und darstellerisch exzellente Sieglinde,
Robert Gambill ein beachtlich kraftvoller und strahlender Siegmund,
Renate Behles verhärmte, aber selbstsichere Brünnhilde
läuft im dritten Aufzug gesanglich zur Hochform auf. Das Bindeglied
zwischen den amorph monolithischen szenischen Deutungen der vier
Abende ist das von Lothar Zagrosek mit der Fähigkeit zu großen
Steigerungen sicher geleitete Stuttgarter Staatsorchester.