[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2004/04 | Seite 43
53. Jahrgang | April
Noten
Zeit-, Tasten- und Pedal-Spiele
Allerlei Experimente am und mit Klavier
Unter den der nmz vorgelegten Klavierpartituren gibt es eine Reihe
von (be)merkenswerten Werken. Die hier vorgestellte Auswahl enthält
solche vom 1987 verstorbenen Altmeister Morton Feldman sowie von
drei deutschen Komponisten, die zwischen 1952 und 1968 geboren wurden.
Stefan Johannes Walter (1968) studierte bei Heinz Winbeck
an der Musikhochschule Würzburg, an der er 2001 selbst einen
Lehrauftrag erhielt. In der Edition Dohr (E.D. 21772) erschien seine
1995 geschriebene „Kadenz für Klavier solo“,
in der er die „Reduktion“ eines „quasi-Klavierkonzertes“
auf die Kernaussage eines solchen, gewöhnlich großformal
angelegten Werkes sieht. Das Stück umspannt, bei Tempo Achtel
= 60 mit dem Zusatz „quasi rubato“, in 58 Takten eine
Dauer von etwa 5’ 20“. Zwei unterschiedliche Elemente
beherrschen die auf vier Systemen notierte Kadenz von Beginn an:
auf den äußeren Systemen Quinten in extremer Lage und
auf den mittleren Systemen virtuose Passagen. Die Quinten werden
zu Beginn der unterschiedlich langen Takte jeweils einmal im sforzato
angeschlagen und durch das hier unverzichtbare mittlere Pedal gehalten.
Sie überlagern damit das komplex angelegte Figurenspiel, das
– auf beide Hände verteilt – zunächst einstimmig
geführt wird, dann ab Takt 15 in permanenter Zweistimmigkeit.
Die pianissimo-Ereignisse sind stets mit linkem Pedal zu spielen.
Im weiteren Verlauf werden die Quinten in Gegenbewegung allmählich
weiter in Richtung Mittellage geführt. Nach einer Generalpause
in Takt 25 wird die virtuose Figur immer weiter reduziert und in
Takt 38 mit dem einzigen crescendo beendet. Ab Takt 39 verbleiben
nur die Quinten, die die nunmehr ausgedünnte Komposition choralartig
beschließen.
„Kadenz“ ist ein spannungsvolles Klavierstück;
es erfordert einen Pianisten, der auch in schneller Bewegung sehr
leise spielen kann und zugleich komplexe Zeitproportionen zu erfüllen
vermag.
Der 1959 geborene Christoph J. Keller hat an der Musikhochschule
Saarbrücken bei Jean Micault Klavier studiert. Nach zwölfjähriger
Tätigkeit an der Musikschule Oldenburg (Klavier, Kammermusik,
Musiktheorie) lebt er jetzt als freischaffender Komponist und Pianist
in der Stadt. Nach seinem Jugendalbum erschien in der Noetzel Edition
das aus acht kurzen Sätzen bestehende, 1994/1995 entstandene
Heft „Impressionen für Klavier zu vier Händen“
(N 3902). In den ansprechenden, musikalisch und technisch überzeugenden
Bildern bedient sich Keller einer gemäßigt modernen Tonsprache,
die auch zwölftönige Elemente, Clusterspiel und Flageolettwirkungen
nicht ausschließt. Er konstatiert mit Recht, dass sein Werk
gleichermaßen zum häuslichen Musizieren wie auch zum
Konzertvortrag geeignet ist. In jedem Takt zeigt sich der erfahrene
Pianist und Pädagoge. Die Klavierparts sind in Partiturform
übereinander gedruckt, und nur einmal muss innerhalb eines
Satzes geblättert werden. Der an Debussy geschulte Klaviersatz
ist durchsichtig angelegt und lässt sich ohne Probleme realisieren.
Die Stücke sind sehr sorgfältig mit Fingersätzen
und Angaben für alle drei Pedale ausgestattet. Italienische
Spielanweisungen werden erklärt, ebenso Zeichen, die noch nicht
jedem Spieler vertraut sind, wie etwa Cluster aus stumm niedergedrückten
Tasten oder für halbes Pedal oder langsam getretenes Pedal.
Einige schnellere Spielfiguren sind so geschickt auf Hände
und Spieler verteilt, dass das geplante Grundtempo nicht beeinträchtigt
werden muss. Die schönen, nur mittelschweren „Impressionen“
bilden einen willkommenen Beitrag zur Literatur für zwei Spieler
an einem Instrument.
Morton Feldman (1926 bis 1987) ist einer der bekanntesten
Musiker der USA; seine Klavierwerke werden allerdings relativ wenig
gespielt. In New York erhielt er Klavierunterricht bei Vera Press,
die in Deutschland bei Busoni studiert hatte, und nahm Kompositionsunterricht
unter anderem bei Stefan Wolpe, der 1933 aus Deutschland geflohen
war und, nach einigen Jahren in Palästina, 1938 in die USA
emigrierte. Von Wolpe wurde Feldman bei Varèse eingeführt.
Wie Busoni und Wolpe war auch Feldman ein Kulturschaffender, dessen
Interessen und Kenntnisse weit über das eigene Sachgebiet hinausreichten.
Zu seinem New Yorker Umfeld gehörten nicht nur Musiker wie
John Cage, Christian Wolff, Earle Brown und David Tudor, der sein
Studienkollege bei Wolpe gewesen war, sondern auch Maler wie Mark
Rothko, Willem de Kooning, Philip Guston und Jackson Pollock. Gerade
durch Anregungen der letzteren wurde Feldman nachhaltig beeinflusst,
was sich unter anderem in der Einführung graphischer Notation
zeigte, die ihrerseits auf Cage und andere ausstrahlte.
Die Edition Peters hat unter Nummer 67976 in einem Band, der von
Volker Straebel herausgegeben und kommentiert wurde, die „Solo
Piano Works 1950-64“ von Feldman zusammengefasst, darunter
auch einige, die vorher noch nicht veröffentlicht waren. In
den meisten Stücken arbeitet der Komponist mit fixierten Tonhöhen,
die zum Teil mit Takteinteilungen und Rhythmen, einige sogar mit
Metronomziffern versehen sind. In anderen, wie beispielsweise den
einigermaßen bekannten „Last Pieces“, sind nur
Tonhöhen notiert, die den Spielanweisungen entsprechend gespielt
werden sollen: „Slow. Soft. Durations are free“ gilt
für die Ausführung von Nummer 1. Ergänzt wird die
Sammlung durch einige Arbeiten, die nur graphisch konzipiert sind.
Der vorliegende Band vermittelt einen guten Einblick in das frühe
Schaffen von Morton Feldman, in eine Welt von lang ausgehaltenen
Klängen, von Nachhallwirkungen und bedeutungsvollen Pausen
– in eine Musik, die klingt wie von Beckett beeinflusst; dieser
schrieb später, 1976/77, den Text zu Feldmans einziger Oper
„Neither“.
Reinhard Febel, 1952 geboren, studierte in Stuttgart bei
Milko Kelemen und in Freiburg bei Klaus Huber. Er war mehrfach Preisträger
bei Wettbewerben und erhielt 1983 einen Auftrag der Bayerischen
Staatsoper München für die Kammeroper „Euridice“.
1989 wurde er Professor an der Musikhochschule Hannover, 1997 nahm
er einen Ruf auf eine Professur für Komposition am Mozarteum
in Salzburg an. Aus seinem bisher vorgelegten Klavierschaffen gelangten
die „Vier Etüden für Klavier“ auf die Literaturliste
Klavier des Wettbewerbs „Jugend musiziert“.
Der nmz wurden drei Klavierwerke von Reinhard Febel vorgelegt: Das
1986 bis 1990 entstandene „Piano Book I“ in einer
gedruckten Fassung (Ricordi Sy. 3164), das mit „vorläufige
Ausgabe“ bezeichnete „Piano Book II“ aus
den Jahren 1991 bis 1993 (Ricordi Sy. 3187) in der reproduzierten
Handschrift des Komponisten sowie, ebenfalls handschriftlich, aber
ohne Verlagsangabe, die „Variationen über ein Thema von
Paganini“ aus dem Jahre 2002.
Der Ricordi-Verlag führt in seinem Katalog auch ein späteres,
hier nicht vorliegendes „Piano Book III“ an, für
das 1994 als Jahr der Uraufführung genannt wird. Für jedes
der drei Hefte wird eine Dauer von etwa 20 Minuten angegeben.
Die insgesamt 15, meist mit Titeln versehenen Sätze der „Piano
Books I und II“ dürfen in beliebiger Gruppierung und
auch in Auswahlen gespielt werden. Der Schwierigkeitsgrad ist unterschiedlich,
es gibt leichtere Stücke, aber auch solche, die dem Spieler
Virtuosität bei nicht geringem Tempo abverlangen (siehe II,
4 ). Ein Titel aus Band II scheint bezeichnend für Febels Arbeit
zu sein: „Hommage à J.S.B.“. Der Komponist denkt
mehrschichtig-polyphon, er schafft ein komplexes Gewebe aus selbständig
geführten Stimmen, in denen kein Ton ohne Bedeutung ist. Dieser
Eindruck wird bestärkt durch die präzise und eindeutige
Schreibweise, die keine Unklarheiten zulässt; wo es zum Studium
hilfreich ist, werden zusätzliche Notensysteme eingeführt.
Reinhard Febel muss ein guter Pianist sein, denn trotz manchmal
beachtlicher technischer Ansprüche ist der Satz auf Spielbarkeit
ausgerichtet; das geht auch aus der genauen Bezeichnung von Fingersätzen
und Pedalen hervor sowie aus der Verteilung schwieriger Passagen
auf die Hände. Die qualitätvollen und gut für das
Instrument geschriebenen „Piano Books“ von Reinhard
Febel bilden einen wichtigen Beitrag zur Klaviermusik unserer Zeit
und lassen auf weitere Klavierwerke des Komponisten hoffen.
Febel legt seinen „Variationen über ein Thema von Paganini“
die berühmte Caprice Nr. 24 in der Brahms-Fassung zugrunde
und schreibt in seiner musikalischen Sprache 15 technisch sehr anspruchsvolle
Variationen. Diese setzen Spieler voraus, die über einen hohen
Grad von Virtuosität verfügen und tunlichst Dezimen greifen
können. Einige Stellen erfordern den Einsatz des mittleren
Pedals; ohne dieses muss Variation 10 ausgelassen werden. Febels
„Paganini-Variationen“ liegen in seiner deutlichen Handschrift
vor, die allerdings für den praktischen Gebrauch am Klavier
vergrößert werden müsste. Das glänzende Stück
verdient sehr gute Pianisten, die bereit sind, ein so schwieriges
Opus in Ruhe und über einen längeren Zeitraum zu erarbeiten.