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nmz 2004/04 | Seite 29
53. Jahrgang | April
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Fachgruppe Musik
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Musiktheatralische Paradigmenwechsel auf der Münchener Biennale
· Von Josef Singldinger
Auf einer griechischen Tonscherbe, die vor etwa zweieinhalbtausend
Jahren zu einer Vase gehörte, fand man notiert: „Alles
ist schon gedacht.“ Das ist vermutlich richtig. Aber wir dürfen,
wie wir erfahren haben, hinzufügen: Alles ist schon gedacht
zu seiner Zeit, in der sich die Dinge und wir uns mit ihnen verändern.
Wir leben in einer medial und technisch hochgerüsteten Welt.
Die rasende Entwicklung verwirrt uns und treibt uns unentwegt vorwärts.
Vieles schwebt im Ungewissen, im Vielleicht.
Die Kunst versucht, Grenzen zu überschreiten. In der Musik
spielen seit geraumer Zeit die neuen Medien eine starke Rolle. Die
Veränderung der Räume, in denen Musik aufgeführt
wird, steht zur Disposition. Die Klänge werden revolutioniert
und unsere Hörgewohnheiten in Frage gestellt. Unser Hörsinn
dringt in noch kaum erfahrbare Mikroebenen vor. Performance in der
Musik und Installation zur Musik gehören zur Einrichtung. Das
subtile Spiel mit Irritationen hat begonnen. Wir sind heute mit
ausgetüftelten Klangassoziationen in übergreifenden Räumen
konfrontiert; wir können vielleicht tiefer in die Töne
hineinkriechen, sie hervorheben, sie unterstreichen.
1939 schwärmte Edgar Varése von einem elektronischen
Gerät, mit dem man jedwede Differenzierung der Klangfarben,
völlig neue Klangkombinationen, nie gehörte Lautstärken,
kontrapunktisch behandelte Rhythmen erzeugen und jede gewünschte
Zahl von Noten schreiben könne. Heute sind Varéses Wünsche
fast schon realisierbar, obwohl es noch drei bis vier Generationen
dauern wird, wie der Leiter der Donaueschinger Musiktage, Armin
Köhler, meint, bis die Künstler wie auch ihr Publikum
die Erfindung wirklich verstanden haben und sie dann adäquat
umsetzen beziehungsweise rezipieren können.
Die Gefahren, denen die Neue Musik heute begegnet, sind an dem
gegenwärtigen Stand der Computermusik am deutlichsten festzumachen.
Denn auch sie ist dem Makrobereich der kulturellen Ambitionen in
einer globalen Welt unterworfen. Der verheerend maßlose Kapitalismus
der westlichen Länder hat sich aller Lebenssphären bemächtigt.
Mit sehr vielen Computermusiken wird heute das musikalische Bewusstsein
– und nicht nur dieses – vernebelt.
Es bleibt der Trost: In Berlin zum Beispiel wird via einer Art
work in progress mit neuer Musik in Wohnzimmern und Küchen
oder im zum Konzertsaal ausgebauten Speicher des BKA Theaters, wo
„unerhörte Musik“ gespielt wird, öffentlich
experimentiert. Den neuen Entwicklungen sind die Musiktage in Donaueschingen,
das ECLAT-Festival in Stuttgart, die Kammermusiktage in Witten oder
„Ultraschall“ in Berlin auf der Spur, um nur die größeren
Institutionen zu nennen, zu denen ebenso die musiktheatralischen
Aufführungen der Münchener Biennale gehören.
Das Virtuelle ist das Reale
Die Münchener Biennale, 1988 von Hans Werner Henze gegründet,
seit 1996 unter der künstlerischen Leitung von Peter Ruzicka,
war mit seinen inzwischen über 20 Uraufführungen schon
immer ein bemerkenswertes Forum des experimentellen Musiktheaters.
Im Jahre 2002 fand die bisher wohl folgenreichste Biennale statt
mit der Überschrift „Virtuelle Realität“.
Das Thema wurde in jahrelanger Arbeit vorbereitet. Anfangs wussten
alle Beteiligten nur ungefähr, wohin sie wollten. Peter Ruzicka
sagt in einem Gespräch mit „Kunst+Kultur“: „Von
den neun Komponisten, mit denen ich gesprochen habe, waren sechs
von dem Gedanken beherrscht, etwas zu schreiben, was zu dem als
virtuelle Realität definierten Komplex passt.“
Wurden nun vor zwei Jahren auf der 8. Biennale Eulen nach Athen
getragen? Denn virtuell ist das Theater immer. Die Geschichten,
die man sieht und hört, repräsentieren den Schein von
Wirklichkeit. Zugleich wird real auf der Bühne gespielt. Ist
virtuelle Realität nur ein Pleonasmus? In München wurde
vor zwei Jahren bewiesen, dass wir per virtueller Realität
in völlig neue Erfahrungsbereiche geraten: mittels Computer
wurde die Dreidimensionalität von Räumen simuliert. Innerhalb
dieser Räume agieren die Darsteller, die sich nun in ihrer
oft plötzlich verändernden Bühnenwelt anders als
in herkömmlichen Inszenierungen orientieren und auch anders
agieren müssen. Komponisten nämlich gestalten ihre Musik
so, dass die Sängerinnen und Sänger nicht nur auf sie
reagieren können. Die Musikstücke sind oft traditionell
instrumentiert. Den Klang jedoch, den sie erzeugen, können
die Künstler computertechnisch ad hoc verändern. Nicht
genug damit: Zusätzlich ist es den Akteuren auf der Bühne
möglich, auf diesen Klang, sobald sie sich bewegen, via installierte
Steuerungsmechanismen einzuwirken, ihn mitzugestalten.
„Das Leitthema ‚Virtuelle Realität‘ hat
sich aus der Summe der bisherigen Projekte ergeben“, erklärt
Peter Ruzicka. „Am Beginn des 21. Jahrhunderts stehen wir
vor einem Paradigmenwechsel.“ Der technische Fortschritt prägt
auch das Theater: Vor fünf Jahren war das Motto der Münchener
Biennale „… wie die Zeit vergeht“. Es ging darum,
zu zeigen, welchen Ausdruck die historische und die physikalische,
also die vergangene, die vergehend fließende Zeit finden –
und die Dauer der Zeit. Im Jahr 2000 versuchte man „…
über die Grenzen“ – so das Motto der 7. Biennale
– zu gehen. In den Diskussionen, die Postmoderne betreffend,
die mit „Anything goes“ etikettiert ist, kamen viele
zu dem Ergebnis, dass paradoxerweise die propagierte Grenzenlosigkeit
selber Grenze geworden sei. Wie nun kann diese Grenze überschritten
werden? Ruzicka formulierte in einem Interview, das Susanne Stähr
mit ihm führte: „Durchschreitet man solche Grenzen, wird
man sich unversehens in der Mitte des Musiktheaters wieder finden.
Lachenmanns 1997 an der Hamburgischen Staatsoper uraufgeführte
Oper ‚Das Mädchen mit den Schwefelhölzern‘
(siehe „K+K“ 1/1997) ist in diesem Zusammenhang ein
geradezu paradigmatisches Werk, als es bewusst gegen die Bedingungen
des Musiktheaterbetriebes komponiert wurde… Das sollte die
neue Richtung bestimmen.“ Konsequent und radikal wurde diese
neue Richtung auf der 8. Biennale fortgesetzt: „Die digitalen
Technologien führen zu einer Umorientierung“, so Ruzicka.
Wie sieht sie aus? Wie hört sie sich an? Wie kommen Hören
und Sehen in dieser Umorientierung zu ihrer Einheit?
Viele Künstler, die an solchen Umgestaltungen arbeiten, laufen
nicht Gefahr, in unserer erlebnisorientierten Welt ihre Erfindungen
als besondere technizistische Sensation herauszustellen. Ruzicka
jedoch, kritisch die Innovationen begleitend, hatte zunächst
die Sorge, es könne doch zu so etwas wie einer Hightech-Veranstaltung
kommen, in der „der Inhalt, Geschichten von Menschen zu erzählen,
zurücktritt oder relativiert wird“. Er weiß: „Rein
technische Installationen werden sich sofort verflüchtigen.“
Und er sieht eine zweite Gefahr in der Idee der virtuellen Realität
versteckt: die Opulenz der Bilderwelt: „In der Konkurrenz
mit der optischen Sensation ist die musikalische Schicht immer unterlegen.“
Fünf Uraufführungen
Auf der 8. Biennale – mit den für das Festival komponierten
Opern „Marlowe. Der Jude von Malta“ von André
Werner, „Orpheus Kristall“ von Manfred Stahnke und „Heptameron“
von Gerhard E. Winkler – war das Verhältnis von Optik
und Akustik nicht immer harmonisch gelöst. Oder aber schien
das Publikum wie im Fall der Oper „Heptameron“ mit der
zweifellos artifiziell genauestens durchgestalteten Flut von Bildern
und Klängen überfordert. Der üppige Einsatz neuer
medialer Techniken kann zum Stillstand von Wahrnehmung führen.
Oder müssen wir über die neuen Medien ganz anders sehen
und hören lernen? – Diese Fragen wurden damals diskutiert.
Auch Ruzicka fällt eine Antwort nicht leicht: „Das ist
deshalb so schwer zu beurteilen, weil wir selbst Teil der Versuchsanordnung
sind und weil wir uns mittendrin im Erkenntnisprozess befinden.
Ich halte es jedoch für wahrscheinlich, dass unsere gesellschaftliche
Wahrnehmung über die neuen Medien immer mehr verändert
wird.“
Dort, wo mit Mitteln der virtuellen Realität im Operntheater
gearbeitet wird, lassen sich im Grunde alle Vorgänge auf der
Bühne entscheidend intensivieren. Man stellt nicht nur analog
Bilder und Stimmungen her, sondern dringt dank der unendlich vielen
Möglichkeiten, einen Zustand, eine seelische Regung digital
ausleuchten zu können, tief in das Geschehen ein. Gerade das,
was in diesem neuen Musiktheater geschieht, kann jetzt in neuen
Verfahren sichtbarer und damit auch hörbarer gemacht werden
als in traditionellen Vorstellungen. Vielleicht werden unsere alten
Ohren und Augen über die so entstehende Unmittelbarkeit sogar
weiter. Mit innovativen Techniken verändert sich unsere Einsicht
in die Geschichten, die in Opern erzählt werden.
Diese technischen Veränderungen haben natürlich Folgen
für die Musiker. Sie müssen nicht nur Partituren schreiben
können, also das innermusikalische Metier beherrschen, sondern
auch technische Verfahrensweisen. Trotz dieser Erweiterung der Professionalität
bleibe der Opernbetrieb arbeitsteilig, betont Peter Ruzicka. „Auf
der Ebene der Realisationen sind viele neue Mediatoren, die vermittelnd
tätig sein werden, nötig.“
Ruzicka spricht von einem Quantensprung, der sich in der neu zu
gestaltenden Arbeit einer kommenden Generation von Interpreten ereignen
wird. Sie hätten nun eine ungeheuere Zahl von Aktionen und
vokalen Äußerungen einzustudieren. „Eine Sängerin,
ein Sänger muss in jeder Sekunde hellwach sein, hat ständig
auf Zuspiel und Impulse zu reagieren. Er oder sie weiß, dass
jede Bewegung, die sie auslösen, Konsequenzen hat.“
Diese 8. Münchener Biennale kam, nachdem die Weichen über
viele experimentelle Opernaufführungen gestellt worden waren,
auf einer neuen Schiene an. Peter Ruzicka sieht jedoch auch die
Gefahr, dass „die Ubiquität des Informationsüberflusses
uns heimatlos macht“ und antwortet darauf. Das Motto der am
12. Mai 2004 beginnenden 9. Münchener Biennale lautet: „…
in der Fremde“. Alles ist so nah und doch so fern. Die Fremde
wird, wie aus der Vorankündigung zu erfahren ist, als notwendige
Erfahrung und als Katastrophenschutz des Denkens betrachtet. Ruzicka:
„Die Globalisierung und die Präsenz des Virtuellen verringern
gefühlte Distanzen auch kulturell.“
Fünf Opern werden uraufgeführt: Die Fremde als Chiffre
der – vor allem avancierten – Kunst hat der Engländer
Brian Ferneyhough in seiner Oper „Shadowtime“ (Schattenzeit)
zu seinem Thema gemacht; der Franzose Mark André lässt
sich in „… 22,13 …“ auf die von Menschen
geschaffene künstliche Intelligenz ein; Qu Xiao-song will in
„Versuchung“ die westliche Moderne und die chinesische
Tradition miteinander versöhnen. In der Oper „Berenice“
– nach einer Erzählung Edgar Allen Poes – zeigt
der Österreicher Johannes Maria Staud, wie Irritation zum Entsetzen
werden kann. Der aus Vilnius kommende Vykintas Baltakas leuchtet
in „Cantio“ Aspekte ursprünglicher menschlicher
Kommunikation aus.