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nmz-archiv
nmz 2004/05 | Seite 45
53. Jahrgang | Mai
Oper & Konzert
Die Eingeschlossenen im Airport Sartre
Das ist aber ein fideles Flughafengefängnis: Jonathan Doves
Oper „Flight“ in Leipzig
Der Flughafen als Chiffre: ein Ort, wo man ankommen oder abfliegen
kann. Ein Ort, an dem Verweilen zum Widerspruch gerät, an dem
Nachdenken und Besinnung ausgeschaltet erscheinen. Ständige
Mobilität ist angesagt. Immer weiter und weiter, nur irgendwo
hin auf dieser Welt. Ein Ort also auch der Bewusstlosigkeit unserer
Zeit. Nur die Katastrophe vermag den rasenden Kreislauf zu stoppen,
ein Absturz oder ein ungewöhnliches Naturereignis, ein Orkan,
ein Schneesturm. Dann wird der Mensch auf sich selbst zurück
geworfen. Die äußere Katastrophe wird projiziert auf
individuelle innere Situationen, auf psychische Befindlichkeiten
und Verdrängungen. Dann verschwindet die Flughafen. Chiffre
gleichsam im existenziellen Nichts. Man scheint dann bei Becketts
und Ionescos Theaterstücken angekommen.
Szene aus der Oper „Flight“
mit „Refugee“ David Cordier und „Older
Woman“ Therese Renick. Foto: Andreas H. Birkigt
Das Faszinosum Fliegen und Flughafen hatte die Oper schon Ende
der 30er-Jahre des vorigen Jahrhunderts für sich entdeckt:
Luigi Dallapiccola schrieb nach Saint-Exupérys Roman „Vol
de nuit“ seine Oper „Nachtflug“. Der dargestellte
Konflikt zwischen den unwägbaren Gefahren der technisierten
Welt für den Menschen und der fatalen Ideologie des „starken
Lebens“, des auf sich selbst gestellten Individuums, spiegelt
kritisch intellektuelle Tendenzen des Futurismus im faschistischen
Italien wider.
Den Konflikt zwischen Mensch und Maschine reflektierte auch Boris
Blachers szenisch-musikalische Reportage „Zwischenfälle
bei einer Notlandung“ (1966), wo die Flugkatastrophe zum Auslöser
surreal anmutender Vorgänge wird, die sich zugleich mit kompositorischen
Experimenten (Elektronik) verbinden. Zum aktuell-politischen Untersuchungsausschuss
avancierte Alessandro Melchiorres Flugzeugoper „…unreportet,
inbound, palermo…“ (1997). Es ging darin um den dubiosen
Absturz einer Passagiermaschine, die am 27. Juni 1980 wirklich mit
81 Menschen vor Palermo ins Meer stürzte, wobei sich hartnäckig
bis heute Gerüchte halten, Nato-Kampfflugzeuge hätten
die zivile Maschine abgeschossen, weil man in dieser Libyens Staatschef
Gaddafi vermutete. Melchiorres Oper geriet bei ihrer Uraufführung
in einem Hangar des stillgelegten Flughafens Atzenhof-Fürth
zu einem geradezu gespenstischen Zeremoniell – doppelbödig
auch, weil diesen Flughafen selbst eine düstere politische
Vergangenheit umgibt.
Zwei weitere Flughafenopern nutzen den Ort für eine bewährte
dramaturgische Situation: Eine Handvoll Menschen unterschiedlichster
Herkunft ist wegen einer äußeren Katastrophe gezwungen,
eine Zeitlang stillzusitzen und miteinander zu kommunizieren: die
Eingeschlossenen auf Flugplätzen sozusagen, um einen Sartre-Titel
zu variieren. Bei Philippe Manourys „60. Breitengrad“
geschieht das sehr ernsthaft: Dialoge mit Enthüllungsdramaturgie
– bei der Pariser Premiere im Jahr 1997 hatte der Regisseur
Pierre Strosser deshalb das vorgegebene bunte Airport-Ambiente weggeblendet
und die Gespräche der im Schneesturm gestrandeten Passagiere,
wie bei Melchiorre, in einen kahlen Hangarraum verlegt.
Von einer derartigen existenziellen Optik ist Jonathan Doves Oper
mit dem kurzen Titel „Flight“ allerdings völlig
frei. Nach der Premiere 1998 durch die Glyndebourne Touring Opera
war „Flight“ beim Glyndebourne Festival, bei der Reiseoper
Enschede und in Antwerpen zu erleben, überall beifallumrauscht.
Der äußerliche Erfolg scheint ihr auch hierzulande sicher
zu sein, die deutsche Erstaufführung an der Oper Leipzig jedenfalls
gab dafür erste Signale. Jonathan Dove, Jahrgang 1959, ist
– wie andere englische Komponisten auch – der von vornherein
nicht verwerflichen Ansicht, eine moderne Oper dürfe auch unterhaltsam
sein. Die kunterbunte Gesellschaft, die da wegen eines drohenden
Orkans auf irgendeinem Flughafen festsitzt, könnte ebenso gut
in Rossinis „Viaggio a Reims“ auftreten. Nur müsste
sie dort virtuoser singen können.
Doves „Flight“-Musik gibt sich eher bescheiden. Sie
meidet jeden komplizierten avantgardistischen Tonfall, geriert sich
gefällig, schaut zur Minimal Music amerikanischer Provenienz,
mischt ein bisschen Jazz-Sound drunter, verschmäht den Gestus
des Musicals nicht, bedient sich punktuell auch in der europäischen
Musikgeschichte und mixt alles geschickt und mit einiger Klangphantasie
so zusammen, dass man es fast für einen Personalstil halten
könnte.
Dazu steuern die Sänger gefällige Vokalität bei,
oft etwas musicalfade Melodien. Anspruchsvoller klingt es nur bei
einer engelhaft hoch singenden Controllerin (Julia Borchert) und
bei einem „Flüchtling“, der auf dem Flughafen festsitzt,
weil er keine Papiere mehr besitzt. Ein Countertenor kann diesen
Leidenston am besten zum Ausdruck bringen. David Cordier gelingt
inmitten der turbulenten Reisegesellschaft aus platten Alltagsmenschen
eine anrührende Figur, die sich in diesem Ambiente allerdings
einigermaßen seltsam ausnimmt. Für eine „Komische
Flugzeugoper“ mangelt es Doves „Flight“ an Brillanz
und Virtuosität. Rossini ist fern. Da konnten in Leipzig auch
die solide Inszenierung, Ralf Nürnbergers Regie in Thomas Grubers
Bühnenbild mit Airport-Accessoires und das ambitioniert aufspielende
Gewandhausorchester unter John Axelrod nicht helfen.