[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2004/05 | Seite 46
53. Jahrgang | Mai
Oper & Konzert
Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen
„John Cage Uncaged“ – ein dreitägiges
Projekt der BBC im Barbican Centre London
Man ließ ihn noch einmal heraus aus seinem Käfig, diesen
Anarchisten, Philosophen und – laut Schönberg –
keineswegs Komponisten, sondern genialen Erfinder, auch wenn seine
Begierde, jedes ihm in die Hände fallende Objekt seiner konventionellen
Bedeutung zu berauben, bei aller Faszination musikalisch wie theoretisch
letztlich der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts angehört.
Unter dem sinnvollen Titel „John Cage Uncaged“ bot
die British Broadcasting Corporation (BBC) anlässlich ihres
jährlich einem Komponisten gewidmeten, dreitägigen Januarwochende
in Londons Barbican Centre noch einmal die gerade von der Jugend
erstaunlich zahlreich frequentierte Gelegenheit, John Cages „gewissenhaften
Umgang mit dem Zufall“ nachzuvollziehen. Zehn Konzerte in
der Barbican Hall, sowie den Kirchen St. Giles Cripplegate und St.
Luke’s stellten einen repräsentativen Querschnitt aus
dessen Œuvre vor. Es fand seine Ergänzung in Kompositionen
seiner amerikanischen Vorgänger Charles Ives, Henry Cowell
und George Antheil, in Beispielen seiner New Yorker Zeitgenossen
Earle Brown, Morton Feldman und Christian Wolff, aber unter anderem
auch in einzelnen Werken von La Monte Young, Lou Harrison, Edgar
Varèse und Erik Satie (darunter selbst „Vexations“,
in dessen Aufführung sich von 18 Uhr bis zum nächsten
Mittag 12 Uhr über 50 Pianisten unterschiedlichster Herkunft,
ja selbst Kritiker teilten). Lediglich Aaron Copland, William Schuman
und Alan Hovhaness schienen in diesem Zusammenhang denkbar deplaziert.
Neben Filmen und Diskussionen durfte ein originaler Pilzgarten nicht
fehlen. Für den kostenlos zugängigen, geräuschvollsten
wie fantasiereichsten Höhepunkt sorgte der amerikanische, in
England beheimatete Komponist Stephen Montague, ein Freund und einstiger
Mitarbeiter von John Cage, mit einem zweiteiligen, jeweils auf 45
Minuten begrenzten „Musicircus“. Rund 350, auf 52 Gruppen
verteilte Mitwirkende füllten über sämtliche Foyers
den gesamten Barbican Hall-Komplex. Er gab damit ein Beispiel, wie
sich Cage die Musik der Zukunft vorstellte; „Musik und visuelles
Geschehen“, so Stephen Montague, „kommen von unerwarteten
Stellen und unerwarteten Räumen. Das Gegenüber von Klangchaos
und Schweigen erwartet von uns, als Musik entdeckt zu werden.“
Dabei sind den Beteiligten – und es sind bei weitem nicht
nur Musiker – bei der Menge und Divergenz von Klang- oder
Geräuschzufällen keine Grenzen gesetzt, sie unterliegen
keinerlei Auflagen. Lediglich die Dauer von Sound und Schweigen
jeder einzelnen Gruppe oder jedes Solisten ist exakt festgelegt
und bindend. Innerhalb dieser wahren Orgie konnte sich das Publikum
frei bewegen und sich von immer neuen visuellen oder akustischen
Standpunkten dem Geschehen ausliefern. „Wir ignorieren Lärm,
weil er uns stört. Wenn wir zuhören, finden wir ihn faszinierend“,
so John Cage. Viele der anwesenden Kinder waren nicht dieser Meinung
und hielten sich die Ohren zu.
Alle Konzerte wurden wie üblich live oder zeitversetzt im
dritten Hörfunkprogramm übertragen – „Cage
in his American Context“ als Auftakt sogar im vierten Fernsehprogramm.
Nicht so allerdings der Musicircus, denn „eine Tonbandaufnahme
eines derartigen Werks ist nicht wertvoller als eine Groschen-Postkarte;
sie vermittelt Wissen um etwas, das sich begeben hat, wohingegen
die Aktion das Nichtwissen um etwas war, das sich noch nicht begeben
hatte“ (Cage). Umso interessanter blieb die Tatsache, dass
viele seiner Kompositionen im Radio und damit ohne die Beigabe visueller
Erweiterung sehr viel mehr mit Musik gemein hatten als ursprünglich
erwartet. Dies galt insbesondere für „Aria“(1958)
für Solostimme mit der überragenden Sopranistin Loré
Lixenberg (auf der Bühne mit Staubsauger und anderen Hausutensilien),
für „Song Books“(1970) für zwei Soprane und
Klavier – die beiden Damen hatten so mancherlei im Visier,
darunter, den großartigen Pianisten Rolf Hind seiner Hosen
zu entledigen oder einer Zuhörerin schluchzend in den Schoß
zu fallen – und „Apartment House 1776“ (1976)
in der Originalversion mit dem wiedergefundenen Uraufführungstonband
der Sänger protestantischer, sephardischer, afroamerikanischer
und nordamerikanischer Lieder – ein geniales Werk, das in
seinem kakophonischen Facettenreichtum an Charles Ives gemahnt.
Nach dem Motto „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen,
und jeder geht zufrieden aus dem Haus“ (Goethe „Faust“)
gab es Cage in Hülle und Fülle – vom präparierten
Flügel über Streichquartette oder „Constructions
in Metal“ bis hin zu klangüberladenen Orchesterwerken.
Selbstverständlich fehlte auch „4’33’’“
nicht, doch erstmals in einem Arrangement für großes
Orchester. Lawrence Foster trat vor das BBC Symphony Orchestra,
hob den Taktstock und das dreisätzige, vier Minuten und dreiunddreißig
Sekunden währende Schweigen nahm seinen Lauf, ohne von Handys
gestört zu werden. Cage dürfte darauf stolz gewesen sein,
dass er mit dieser Version posthum die Rundfunktechnik vor die Lösung
eines kniffeligen Problems gestellt hatte: da Schweigen für
dieses Medium nicht vorgesehen ist, schaltet sich bei Unterbrechung
einer Sendung automatisch Musik ein. Doch die BBC verhalf Cage zu
seinem Recht : auch aus dem Radio drang – abgesehen von einigem
Hüsteln – lediglich Schweigen. Fazit: John Cage bleibt
jenes anarchistische Unikum, das die gesamte westliche Musikgläubigkeit
einem dringend nötigen Frühjahrsputz unterzog und zumindest
endlose Denkanstöße hinterließ.