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nmz-archiv
nmz 2004/05 | Seite 47
53. Jahrgang | Mai
Oper & Konzert
Die besten Geschichten schreibt das Leben
Martin Smolkas Oper „Nagano“ wurde in Prag uraufgeführt
Martin Smolka, Jahrgang 1959, ist heute der international bedeutendste
Komponist der mittleren Generation in Tschechien. Seine Musik ist
eigenwillig schräg gegen den Strich gebürstet, sie horcht
aufs Volk, auf den Klang von Städten oder Landschaften, auf
Idiome des Singens, auf das Quietschen oder Klappern von Rädern,
auf alles also, was uns umgibt und irgendwie auch bewegt. Ein solcher
Ansatz ist keinem präformierten System anzuvertrauen, Smolka
beäugt avantgardistische Thesen skeptisch, nicht aber weil
er zurück, sondern weil er in freier Luft weiter will. Das
gelingt seiner Musik. Es ist eine Musik, die vorher ganz genau zugehört
hat, die aus solchen Erfahrungen Mikrotonales erlauscht, einfache
Skalen und hochkomplexe Strukturen. Und sie stellt sich nicht arrogant
darüber, sondern nimmt Anteil.
Eishockey-Oper: Szene aus
Martin Smolkas Musiktheater „Nagano“. Foto:
Nationaloper Prag
Wo sind heute die großen, die Massen ergreifenden Gefühle,
denen die Oper schon immer nachspürte und in sich zu versammeln
versuchte? Das muss sich auch Smolka auf der Suche nach einem Opernsujet
gefragt haben. In Tschechien ist es das Eishockey, das die Nation
wohl noch mehr bewegt als bei uns der Fußball. Das kleine
Land nimmt die Schläger in die Hand, schwört Zusammenhalt
und kämpft mit verbissener Energie mit den Gladiatoren des
Eises mit. Zur olympischen Goldmedaille hat es lange dennoch nicht
gelangt. Bis zu Nagano, als der Verteidiger Svoboda mit einem Weitschuss
im Endspiel gegen die Russen eine ganze Nation erlöste. Svoboda,
welch Fügung, bedeutet Freiheit! Alles zwischen Prag und Brünn
taumelte vor Freude und Hochgefühl nach diesem Befreiungsschlag
des kleinen, doppelschwänzigen Löwen gegen den Bären-Koloss
aus Russland.
Die besten Geschichten schreibt das Leben. Und das war eine der
allerbesten. Gerade gut für eine Oper, muss Smolka gedacht
haben. Wer nun eine heroisch affirmative Nationaloper dahinter vermutet,
liegt falsch. Das wäre bloß peinlich. Und Smolka ist
viel zu genau in seinen Unter- und Zwischentönen, um dem Sujet
protzig freien Lauf zu lassen. Er ist genau in beide Richtungen!
Er nimmt das Hohle im „We are the best“-Jubel wahr und
stellt sich ebenso gegen die intellektuell gefärbte Ablehnung
des „pöbelhaften“ Trubels, die so tut, als stünde
sie über den Gefühlen, die ohnehin eine Melange aus Auflehnung
von unten, aus Irritations-Witz eines Schwejk, Massensuggestion,
aus Sex and Error und vielen, vielen privaten Implikationen sind.
Das knüpft sich gut zusammen. Die Oper, auch hier schon Genauigkeit,
ist in drei Drittel und eine Nachspielzeit gegliedert. Erzählt
werden die Verwandlung der gutbetuchten Stars in die Hockey-Gladiatoren
der Gegenwart, die wie Ritter mit Arm- und Beinschienen, Masken
und Helmen gerüstet und mit einem - je dicker desto mächtiger
- umwickelten Schläger ausgestattet sind, dann die Abfolge
der Endrundenspiele gegen USA, Kanada und schließlich Russland.
Im dritten Teil, nach dem Sieg, schließlich implodiert die
Spannungskurve. Der Übertorhüter und Siegretter Dominik
Hašek soll, so der Fanwille, zum Präsidenten gemacht werden,
wogen sich Schwejk-Erfinder Jaroslav Hašek aus dem Grab erstanden
verwehrt. Präsident Václav Havel meldet sich auch zu
Wort. Die Spieler und Fans singen ihr „Uadada dä, Jadada
dýja“, ein Frauenchor (die Verlängerung) verklärt
mit Worten des taoistischen Dichters Shin-te über das ewige
Leuchten einer Perle durch das trübe Wasser.
Es wurde eine Oper, die Lust machte. Die Tatsache, dass es das
Haus war, wo einst Mozarts „Don Giovanni“ aus der Taufe
gehoben wurde, also das Prager Ständetheater, mag das noch
befördert haben. Sie steht mit beiden Beinen im Heute. Sie
ist sprühend witzig, treffsicher und zugleich sensibel hintergründig.
Smolka gelang, wovon viele Opernkomponisten, die sich traditionsbescheiden
mühen, nur träumen: Es herrschte die Spannung, die Mischung
aus Hochgefühl, Fiebrigkeit und Zweifel, des Nagano-Endspiels.
Es war die Musik, der das im Verbund mit an die Pekingoper gemahnender
tänzerischer Akrobatik, mit szenischem Witz gelang. Da machte
der Puck, ein schwarz gewandetes Mädchen, den Weg zum kanadischen
Tor frei, indem er kurz und täuschend die Bluse öffnete.
Da waren metallig gekleidete Frauen, die im Aufwärmraum die
Trainingsgeräte abgaben, das war die riesig umwickelte Siegeskeule
des entscheidenden Torschützen. Das waren Gags, die findig,
schön und temporeich von Regisseur Ondrey Havelka zusammengestellt
wurden. Was entstanden ist: eine komische Oper der Gegenwart, im
Wissen, dass komische Oper immer nahe am Ernst sozialer Aufrisse
siedelt. Und dass sie, wieder nahe beim Eishockey, nur im Teamgeist
wirklich zu gedeihen vermag. Für den sorgten alle Mitwirkenden,
die Regie, Tänzer, Sänger, die Musiker der Nationaloper,
der Dirigent Jan Chalupecký. Dass dieser auch selbst Eishockey
spielt, gehörte beinahe zur Grundausstattung.
Der Musik aber gelang letztlich der Spagat zwischen einer Verbrüderung
von Anfeuerungsrufen, hymnischer Staffage und filigraner Auffächerung.
Mozarts Forderung, sowohl dem einfachen Publikum als auch dem Kenner
etwas zu liefern, wurde auf verblüffende Art neu belebt. Denn
es waren durchaus komplexe und genau differenzierte Strukturen,
die zu hören waren. Sie aber kamen mit der Leichtigkeit eines
Rossini oder Offenbach daher. Und merkwürdig: Die Musik, die
alle Bande zusammenhielt, drängte sich nicht eitel nach vorn.
Sie machte mit im realen Geschehen und gab zugleich ihre Kommentare.
Sie freute sich an der Gladiatoren-Verkleidung, an der Spannung
der Spiele, am Triumph, machte mit und wusste ebenso zu unterminieren.
Ihr gelangen Siegestaumel, beklemmende Leere (zum Beispiel in der
Drittelpause nach dem 0:1 gegen die USA), hin zu Puccini zwinkernde
Kantilenen des in einen weiblichen japanischen Fan verliebten dritten
Torhüters, vor allem aber gelang es ihr, die weiten Dimensionen
des Doppelbödigen all dieser Gefühle einzufangen. Hier
war Smolka genau wie kaum ein zweiter Komponist heute. Die Musik
sieht zu, beobachtet genau, freut sich mit, leidet – vor allem
aber zeichnet sie wie in einer Bilderbuch-Montage ein genaues, ironisches
und kritisches Parallelogramm der Kräfte.