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nmz 2004/05 | Seite 17
53. Jahrgang | Mai
Forum Musikpädagogik
Realität und Wirklichkeit sind zwei unterschiedliche Dinge
Zur pädagogischen Forderung, den Sachanspruch der Musik
ernst zu nehmen · Von Christoph Richter
Vor zwei Monaten erschien an dieser Stelle der erste Teil eines
überarbeiteten Vortragstextes von Christoph Richter, der die
Musikpädagogik im Spannungsfeld von Spaßpädagogik
und musikbezogenen Sachansprüchen betrachtet. Dabei ging es
im Besonderen um das Verhältnis von Musikpädagogik und
Spaßgesellschaft, während der hier abgedruckte zweite
Teil sich nun mit den an die Musikpädagogik herangetragenen
Sachansprüchen auseinandersetzt. Ein dritter Teil wird in Kürze
folgen.
Musik ist keine Sache. Sie ist viel mehr als eine Sache, mehr als
eine einzelne Sache und auch mehr als aus vielen einzelnen Sachen
zusammengesetzt. Sie ist ein lebendiges Gegenüber für
den Menschen und ein Partner, der Aktivität herausfordert und
der Lebensgestaltung oder Lebensbereicherung anbietet. Sie ist ein
vielfältiger Handlungs- und Wirkungsbereich unseres Lebens
und eine unerschöpflich reichhaltige Erscheinung unserer Wirklichkeit
– ebenso wie die anderen Künste, wie die Wissenschaften,
die Technik, das philosophische und religiöse Denken, der Umgang
mit der Natur und das Handeln in der menschlichen Gesellschaft.
Der Wirklichkeitsbereich Musik wird durch Handeln, Erleben und Verstehen
hervorgebracht und rezipiert. Er ist stets in Lebenszusammenhänge
eingefügt und trägt zur Lebendigkeit des Lebens bei.
Dennoch rede ich vom „Sachanspruch“ der Musik. Denn
man kann Musik auch als eine Sache betrachten und behandeln, freilich
um den Preis und auf die Gefahr hin, ihre Wirklichkeitsfülle
auf bestimmte, aus ihr herausgelöste und herausgeschnittene
Sachverhalte zu verkürzen und sie zu Begriffen, Modellen und
Formeln zu abstrahieren. Stets ist zu überlegen und zu begründen,
ob und in welchem Sinne das bedenklich, nützlich oder sogar
notwendig ist.
Sinnvoller, als Musik zu einer Sache zu degradieren, scheint mir
der Gedanke, die Wirklichkeitserscheinung und Wirklichkeitsfülle
der Musik enthalte – je nach Interesse und Umgangsweise –
einzelne Aspekte, die man – vorübergehend – als
Sachen isolieren und betrachten kann. Solche Sachverhalte zu entdecken,
zu benennen, zu ordnen und zu deuten, kann dem Verstehen der Musik
und dem Umgang mit ihr zugute kommen. Die intensive, aber vorübergehende
Beschäftigung mit solchen Sachverhalten, als einer speziellen
Weise des Umgangs mit Musik, trägt dann vielleicht auch dazu
bei, die Wirklichkeitsfülle der Musik zu erschließen
und genauer kennenzulernen.
Gernot Böhme bezeichnet – den Maler Josef Albers zitierend
– das, worauf ich aus pädagogischer Sicht aufmerksam
machen will, als Unterscheidung zwischen „factual fact“
und „actual fact“, zwischen Realität und Wirklichkeit.
Mit Realität meint er die objektiven Eigenschaften eines Bildes
(Farben, Leinwand, das Feld von Gegenständen, das heißt
die „objektiven‘ Sachverhalte). Wirklichkeit versteht
er als das, was das Bild ausstrahlt, das Atmosphärische, seine
Botschaft.1 Ein einfaches Beispiel für eine solche Sache ist
etwa der Dreiklang, verstanden als Aufeinander- oder Nebeneinanderschichtung
von zwei Terzen (Das musikpädagogische Problem der Terminologie
lasse ich beiseite). Ihn als diesen Aufbau aus Tönen zu kennen,
ihn lesend oder hörend zu erkennen (isoliert als Einzelphänomen
oder in größerem musikalischen Zusammenhang), ihn in
der üblichen Weise benennen und ihn aufschreiben zu können
(so dass andere wissen und erkennen, welche Sache gemeint ist);
ferner ihn spielend, singend oder erklärend aufbauen und benutzen
zu können, vielleicht sogar seine vier Möglichkeiten der
Zusammensetzung aus kleinen und großen Terzen zu kennen…
alles dies trägt dazu bei, dem Anspruch der „Sache“
Dreiklang gerecht zu werden.
Wissen, benutzen, erläutern
Je reicher die Entfaltung eines solchen Sachverhalts und ihres
Netzes von Aspekten ausfällt, desto mehr trägt er zur
genauen Bestimmung einer Musik bei und nähert er sich ihrer
Wirklichkeits- und Wirkungsfülle. Diesem Beispiel entsprechend
kann man das (akustische und sinnliche) Phänomen des Tones,
der Reihung von Tönen, die verschiedenen Tonabstände,
ihren Aufbau zu Zusammenklängen, die Zeitordnung, die Ordnung
von kleineren oder größeren Gestalten, von Gattungen,
von Prinzipien der Akustik… als Sache erörtern und entfalten,
und so den Sachanspruch der Musik durch Wissen, Benennen, Benutzen,
Erläutern… erfüllen oder ihm näherungsweise
gerecht werden.
Zu den Sachverhalten der Musik, die Anspruch auf Wissen, Benutzen
oder Erläutern-Können erheben können, zählen
auch geschichtliche, biographische und psychologische Daten, Fakten
und Erscheinungen, sowie in bestimmter Hinsicht die einzelnen Werke
selbst und ihre Aufführungen. Das gilt schließlich auch
für ästhetische Theorien, also für das Nachdenken
über Sinn, Wirkung und Funktion von Musik. Zusammengefasst:
Was wir durch Musiktheorie und die Bereiche der Musikwissenschaft
über Musik erfahren, das kann als jener Bereich der Musik bezeichnet
werden, aus dem Sachverhalte extrapoliert werden.
Zweifellos also gibt es Sachverhalte in der Musik, und es kann
nützlich oder notwendig sein, sie zu kennen. Wenn wir sie aber
kennen, heißt das nicht, dass wir Musik kennengelernt haben
oder mit ihr verstehend und handelnd umgehen können. Eine Sache
ist, wenn ich einen Definitionsversuch wagen darf, etwas, das –
ausgegrenzt aus einem größerem Zusammenhang – benannt,
gewußt, erläutert, benutzt, systematisiert (das heißt
eingeordnet) werden kann – anders formuliert, was von jemand
aus bestimmten Interessen zu einer Sache erst gemacht und als Sache
behandelt wird. Etwas als Sache zu behandeln, ist eine Entscheidung,
nicht eine zu fordernde Notwendigkeit oder gar gegebenes Schicksal.
Denn dasselbe Etwas kann auch anders als „sachlich“
genommen werden, vielleicht als eine unbestimmt wirksame Atmosphäre,
als ein Dialogpartner im Bereich von Gefühlen oder fürs
Musizieren, kurz: als etwas (definitorisch und systematisch) Unbestimmtes,
aber Lebendiges und lebendig Machendes.
Ich versuche, dies mit einem Gedanken des Physikers A. M. Klaus
Müller zu veranschaulichen: Wenn wir eine Musik (oder ein Detail
von ihr) als Sache bestimmen wollen, blenden wir die „restliche“
(im Moment störende) Fülle ihrer Wirklichkeitserscheinung
und auch die Fülle unserer Verstehens- und Erlebensmöglichkeiten
aus. Wir decken sie, wie bei der Operation eines bestimmten Körperteils,
gleichsam mit Tüchern ab.
Auf diese Weise beschäftigen wir uns mit ihr, um Genaueres
über ausgewählte Sachverhalte zu erfahren, entsprechend
der streng wissenschaftlichen Methode der Abblendung.2 Um die möglichen
prinzipiellen Weisen der Wirklichkeitserfahrung zu verdeutlichen,
benutzt Müller ebenfalls das Bild einer Skala. Auf ihr kann
man zwischen zwei extremen Polen den Ort der jeweils angemessenen
oder gewünschten Beschäftigung mit etwas festlegen: zwischen
dem Extrem der biographischen Erfahrung, die er „Offenbarung“
und „Widerfahrnis“ nennt, und dem Extrem der äußersten
Form von Wirklichkeitsabblendung – der Beschreibung eines
Sachverhalts in einer Formel – beispielsweise einen Zusammenklang
als D7 – und zwar zunächst, ohne sich für seine
Wirkung, seine Funktion, seinen historischen Ort, seine Verwendungssmöglichkeiten,
vor allem für den persönlichen subjektiven Zugriff zu
interessieren.
Der Sinn jener Forderung, den Sachanspruch von etwas zu erfüllen,
hängt davon ab, ob und wieweit ein Gegenstand überhaupt
als eine Sache betrachtet werden soll. Musik als eine Sache zu betrachten
und zu behandeln, ist nicht normativ gegeben oder pädagogisch
zu fordern. Wenn jedoch musikalische Sachverhalte mit der Methode
der Abblendung isoliert werden – etwa ein Modulationsgang
– dann muss ihr Sachanspruch einen Zweck erfüllen und
auch ernst genommen werden. Denn die isolierende Abblendung dient,
so ist zu hoffen, der Erschließung der vollen Wirklichkeit
von einem bestimmtenPunkt aus.
Mit anderen Worten: ob in der Beschäftigung mit Musik Sachansprüche
zu erfüllen sind, erweist sich als Frage der „Einstellung“
(im filmtechnischen Sinne), des speziellen Interesses und der Intention.
Wenn wir es wollen und wenn es uns geboten erscheint, behandeln
wir Musik oder Aspekte von ihr als Sache, und nur dann ist sie eine
Sache. Ein Konzept jedoch, welches den Sachanspruch der Musik zur
Grundlage erhebt oder eine systematische Liste von Sachverhalten
als Gerüst für den Aufbau der Lehrplanung benutzt, ist
musikalischer und pädagogischer Unsinn. Gleichwohl wird Musikunterricht,
sofern er sich mit Musik als einem ernstzunehmenden Gegenüber
beschäftigt, andauernd genötigt sein, sich musikalischer
Sachverhalte zu vergewissern; ich lasse offen, in welcher Systematik
und in welcher Art von Terminologie. Es gibt vielfach die Neigung,
Musikunterricht prinzipiell unter die Norm von Sachanspruchs-Forderungen
zu stellen und gar ihn darauf zu beschränken – in der
Musiklehrerausbildung und in Lehrplänen ebenso wie im individuellen
Verhalten von Lehrern. Dagegen ist stets zu fragen, wie der Anspruch
legitimiert ist, den die „Sache Musik“ angeblich einfordert.
Denn es ist keineswegs die Musik selbst, die beansprucht, sie als
Sachen kennen, benennen, erläutern und sachgerecht benutzen
zu können. Möglich und gewinnbringend ist ja durchaus
auch, zu einer Musik, in welcher Dreiklänge ein wichtige strukturelle,
historische oder wirkungsmäßige Bedeutung haben, sich
frei und spontan zu bewegen, sie zu musizieren oder sie intensiv
hörend zu genießen, ohne ihre Existenz und Struktur des
Dreiklangs als eines Sachverhaltes zur Kenntnis zu nehmen.
Wissenschaften von der Musik
Die wichtigsten Anwälte des Sachanspruchs der Musik sind
die Wissenschaften von der Musik. Sie beschreiben, erläutern,
ordnen und deuten die Musik nach Sachverhalten und Sachaspekten
und bringen oder zwingen sie in ein System von Kategorien, Regeln,
Modellen und Theorien.
Ihr Anliegen gilt der Triftigkeit der Beschreibung und Erklärung
der Sachverhalte sowie ihrer Deutung innerhalb ihrer Systeme und
Regeln. Diese Systematik ist hilfreich, wenn auch nicht unverzichtbar
für den im Musikunterricht notwendigen Umgang mit Sachverhalten.
Wie jede Wissenschaft neigt auch jene der Musik dazu, die einmaligen
Erscheinungen (sprich der Werke, des Musizierens und der musikalischen
Situationen) den wissenschaftlichen Ordnungen, Definitionen und
Normen gefügig zu machen. Mit ihrer Neigung zur Systematisierung
stehen sie in der Gefahr, sie die lebendige Wirklichkeit der Musik,
ihre Aufgabe als Dialogpartner in Verstehensprozessen und ihr Angebot
zur Lebensgestaltung zu vernachlässigen oder nicht für
ihre Aufgabe zu halten.
Das Beharren auf einem Primat der Sachansprüche im Musikunterricht
ruft die Gefahr hervor, die Modelle und die Terminologie mit den
lebendigen Erscheinungen zu verwechseln, wie eine Landkarte mit
der Landschaft. Das ist etwa der Fall, wenn Kompositionen unter
den einengenden Maßstab von Formmodellen gestellt werden,
wenn die Untersuchung harmonischer Verhältnisse sich an Harmonisierungstheorien
klammert, anstatt die Phänomene zu erkunden, wenn Geschichtsschreibung
sich Epochendefinitionen vorgeben läßt, wenn sie bestimmte
wissenschaftliche Schulmeinungen absolut setzt.
Die Sach-Anwaltschaft der Wissenschaft steht – gegenüber
ihren Gegenständen wie auch gegenüber den Menschen, denen
sie letztlich dienen soll – stets in dem Dilemma zwischen
wissenschaftlich geforderter Abblendung im methodischen Zugriff
und der vielfältigen und offenen Auseinandersetzung mit ihrer
Wirklichkeitsfülle. Diese unsichere und offene Situation beschreibt
jedoch nicht etwa einen Mangel, sondern ist Voraussetzung und Bedingung
fruchtbarer und kritischer Wissenschaft. Es gilt nicht etwa, das
Dilemma zu beseitigen. Es gilt vielmehr, es zur Grundlage wissenschaftlicher
Auseinandersetzung zu machen und in den Zirkel zwischen Abstraktion
und Wirklichkeitsdarstellung hineinzukommen. Musikunterricht darf
noch weniger als die Musikwissenschaft und die Musiktheorie bei
den terminologischen und systematisierenden Verfestigungen stehen
bleiben, die ihnen ständig als Fußangeln drohen. Vielmehr
gilt es, den wissenschaftlichen Verfestigungen durch Versuche zu
entgehen, fragend hinter ihre Begrifflichkeit zu gelangen, zu den
Phänomenen selbst.
Was für die Musikwissenschaft und die Musiktheorie gilt,
gilt auch für den Musikunterricht. Auch in ihm gilt es zu beachten,
daß Sachansprüche stets darauf tendieren, die musikalische
Wirklichkeit und die musikalischen Erscheinungen verkürzend
zu definieren, also ihre Wirklichkeits- und Umgangsfülle in
Grenzen und Käfige zu sperren. Von sich aus hingegen öffnet
sich Musik allen Menschen in der potentiellen Fülle ihrer Wirklichkeit
und in vielen möglichen Konstellationen zum unterschiedlichen
Gebrauch. Es gilt also, darüber nachzudenken und zu streiten,
welche Sachansprüche wann, warum, wie und in welcher (sprachlichen)
Form gestellt werden sollen oder können, und in welchem Verhältnis
sie einerseits zu anthropologisch begründeten Zielen der Musikpädagogik
und andererseits zu den Wünschen und Interessen der Menschen
stehen. Die allgemeinbildende Schule ist keine Schule der (oder
für) Wissenschaft, und Musikunterricht ist nicht Unterricht
in Musikwissenschaft oder Musiktheorie.
Wer den angeblichen Sachanspruch zur Grundlage des Musikunterrichts
erhebt, verfällt sogar einer doppelten Verwechslung: er verwechselt
nicht nur Musikunterricht mit Unterricht in Musikwissenschaft oder
gar Musiktheorie, sondern er verwechselt auch Wissen und Können
mit Bildung. (Diese Verwechslung wird zur Zeit durch das von PISA
ausgelöste unqualifizierte Geschrei gefördert).
Die Sachansprüche, die im Zusammenhang mit den Aufgaben des
Musikunterrichts sehr wohl ihren unersetzlichen Platz haben, dürfen
nicht (und vor allem nicht sogleich) in der unbefragten Übernahme
der wissenschaftlichen Systeme und Terminologie bestehen. Sie sollten
vielmehr als Staunen erregende, als fraglich gewordene und vor allem
als selbst entdeckte Phänomene Gegenstand der Auseinandersetzung
werden.
Anmerkungen
1 Gernot Böhme: Aisthetik. Ästhetik
als Wahrnehmungslehre, München 2001, S. 25 f. und S. 160
f.
2 A.M. Klaus Müller: Die präparierte Zeit, Stuttgart
1972. Das Problem von Wirklichkeitsfülle und Abblendung behandelt
Müller im Kapitel „Erkenntnis, Deutung, Abblendung“,
S. 181–223