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nmz-archiv
nmz 2004/05 | Seite 34
53. Jahrgang | Mai
GNM
Biotechnische Musik und Blockflötengroteske
Zur Wertung der „Musik aus Strom“ bei der GEMA
Noch bevor im Frühling 2004 koreanische Tiermediziner erstmals
menschliche Embryos geklont haben, ist hierzulande das erste Konzert
mit biotechnischer Musik aufgeführt worden: eine Darbietung,
die sich nur schwer mit den Begriffen Musik, Konzert und Komposition
beschreiben ließ. Aber: es erklang halt „etwas“.
Ich darf hier nur über einen technikpolitischen Nebenaspekt
dieser neuen Kunst berichten.
In der biotechnischen Musik gibt es weder Partituren noch greifbare
„Musik-Instrumente“. Im vorgeführten Biomusikreaktor
waren leider auch nur wenige „musizierende“ Eingriffe
während des Konzertes erkennbar – der größte
Teil der Musik wurde im Vorhinein „programmiert“. Offenbar
haben Aminosäuren, Bakterienkulturen und Strahlungsmutationen
andere Parameter als muskelkraftbetriebenes Herunterdrücken
von Pianotasten. Biotechnische Musik arbeitet mit Werkzeugen, die
der bio- und gentechnische Laie nie gesehen hat; das so genannte
Konzert erinnerte mehr an eine Klang-Installation am Arbeitsplatz
eines Chemielaboranten. Da sich die Pioniere dieser neuen Musik
aber als Komponisten ernster Musik verstehen, gibt es nun eine angespannte
Diskussion zwischen ihnen und der GEMA über die Frage, wie
diese neuen biotechnischen Klänge zu bewerten und abzurechnen
sind. Dieses wohl vorübergehende Problem dürfte seitens
der GEMA vermutlich durch einen eigenen Ausschuss für die Punktwert-Einstufung
biogener Klangformen zu lösen sein: solange halt in Öffentlichkeit
und Musikwissenschaft noch zu wenig Klarheit über die neue
Kunstform besteht. Die betroffenen Komponisten sind allerdings nicht
damit einverstanden, dass nun „fachfremde“, das heißt
traditionell arbeitende Komponisten die neue biotechnische Musik
bewerten sollen. Wie aber soll eine so große Traditionsstruktur
wie die GEMA mit so (scheinbar?) abseitigen und (vielleicht?) singulären
Innovationen umgehen? Da ist ein Kollegium von Komponisten nicht
die schlechteste Lösung. Zumal sich dieses Problem in wenigen
Monaten durch die Praxis in Musikkritik und -wissenschaft von selber
erledigen dürfte: In unseren schnelllebigen Zeiten dürfte
es nicht lange dauern, bis biotechnische Musik so verbreitet und
normal wird wie heute etwa elektronische Musik. Die Aufregung der
Pionier-Tage wird sicherlich in ein paar Monaten vergessen sein.
„In ein paar Monaten“? Kommen wir zurück aus
der Zukunft und stellen fest, dass das alles nicht wahr ist: es
ist nicht wahr, daß 127 Jahre nach der Erfindung von Mikrofon
und Phonograph1) die GEMA keine Probleme mehr mit „Musik
aus Strom“ hätte. Im Gegenteil: eines der merkwürdigsten
Kapitel im GEMA-Reglement ist immer noch die Sonderregelung für
„Elektroakustische Musik“. Genauer gesagt geht es mir
hier um die „Punktwertung im Rundfunk“: wieviel ein
Komponist dafür bekommt, wenn sein Werk in Radio oder TV aufgeführt
wird. Im Jahre 2002 gab es vereinfacht gesagt 5,07 £ für
jede gespielte Minute im Radio, aber das sind nur die sogenannten
„100 Prozent“ oder „Rundfunk-Punktbewertung 1,0“.
Handelt es sich bei der betreffenden Musik um ein „Chanson“
oder ein fünf Minuten langes Blockflöten-Solo, werden
schon mindestens 125 Prozent bezahlt2). Handelt es sich
um „Kammermusik in beliebiger Besetzung“, erhält
der Komponist 225 Prozent. Das GEMA-Reglement kennt 24 derartige
Rundfunk-Klassen allein für die „E-Musik“. Alles
ist geregelt – einzige Ausnahme: „Elektroakustische
Musik“ 3). Für „elektroakustische“
Musik im Radio gibt es nur den Mindestbetrag von „100 Prozent“
(also weniger als für das Blockflöten-Solo). Darüberhinaus
steht es im Ermessen des Werkausschusses, elektronische Musik auf
Antrag(!) höher zu bewerten. Komponisten elektronischer Musik
müssen bis heute für jedes ihrer Werke in einem eigenen
Antrag erklären, warum ihr Werk bitte nicht geringer bewertet
werden möge als ein Stück für Blockflöte. Damit
allein ist es aber oft nicht getan. Wenn der Werkausschuss dem Antrag
des Komponisten nicht zustimmt, darf der Komponist auf eigene Kosten
zu einer Ausschuß-Sitzung nach Berlin oder München reisen,
um dort seine Meinung erneut vorzutragen. Das ist zwar meistens
unwirtschaftlich, aber fassen wir nun pointiert zusammen, was einem
widerfährt, der es trotzdem tut. Er hat sich vorbereitet und
einen kleinen Vortrag präpariert. Er will über Software,
Hardware, höchst seltene Samples und eigens für sein Werk
erdachte elektronische Schaltungen sprechen. Er hat sich falsche
Vorstellungen gemacht! All das scheint die Kollegen im Werkausschuss
kaum zu interessieren. Unfreundlich soll er angeblafft worden sein:
„Wir sind doch hier keine Materialprüfer!“. Unser
elektronischer Kombattant bleibt natürlich freundlich und wechselt
vom angeblichen „Material“ zu „Strukturen“.
Vielstimmigkeit ist laut Verteilungsplan der GEMA in der „normalen“
Musik ein Kriterium für Höherbewertungen. Also versucht
er, bestimmte Passagen seines elektronischen Werkes als vielstimmige,
mikrotonale Chöre zu erläutern. Er muß feststellen,
daß nicht alle Mitglieder des Werkausschusses mit dem Wort
„mikrotonal“ etwas anfangen können. Dass manche
der Werkausschussmitglieder seine ProTools-Screenshots anstaunen
als wären es außerirdische Partituren, erklärt sich
dann auch: einige haben sowas noch nie gesehen. Vermutlich würden
sie sein Max/MSP-Patch für ein Häkelmuster halten? (Er
zeigt es ihnen erst gar nicht.) – Die Sitzung geht nach einer
Stunde kollegial zuende. Die Lösung des Problems soll darin
bestanden haben, daß der Werkausschuss die Formulierung fand,
man schätze sich glücklich, eine so interessante Künstlerpersönlichkeit
kennengelernt zu haben, und man werde sich vor diesem Hintergrund
das betreffende Werk nun erneut anhören. Nebenbei ließ
man wissen: elektronische Sinfonie hin oder her, 250 Prozent könne
der Komponist in seinem jugendlichen Alter von 43 Jahren noch nicht
erwarten, dieser Wert sei nur für Altmeister wie den aus Kürten
vorgesehen.
Im Ernst: was tun wir Komponisten uns da an? Wir Elektroniker
einerseits und die Kollegen im Werkausschuss andererseits? Warum
machen wir diesen Quatsch weiter mit? Niemand kann ernsthaft von
den traditionell arbeitenden Kollegen im Werkausschuß verlangen,
daß sie eine Ahnung haben von den aktuellen Vorgängen
und Diskussionen im Fachgebiet der elektronischen Musik. Kein Landschaftsplaner
muss qualifiziert über Biotechnik Bescheid wissen. Warum sollen
die Kollegen Komponisten im Werkausschuss etwas von elektronischer
Musik verstehen, wenn das nie im Leben ihre Musik, ihr Studium,
ihre Leidenschaft war? Mit dem Ermessensspielraum des Werkausschusses
hat man in längst vergangenen Tagen den ehrenwerten Versuch
gemacht, eine ungesicherte Kunstform ins GEMA-Reglement zu integrieren.
Es ist Zeit, die Kollegen im Werkausschuss von dieser unsäglichen
und unmöglichen Aufgabe zu erlösen – und damit auch
die Komponisten elektronischer Musik von diesem kafkaesken Prozedere.
Aber welchen Wert hat die elektronische Musik dann gegenüber
Blockflöten-Soli? Soll man das Rundfunkpunkte-System abschaffen
und sagen: alle Musik ist gleich viel Wert? Eine schlanke Idee,
aber ... ich schlage vor: elektronische Musik kriegt künftig
pauschal 2,125 Rundfunkpunkte (212,5 Prozent) und basta. Wieso?
Weil die Kosten des Werkausschuss-Verfahrens zur elektronischen
Musik ungefähr die Summe auffressen, die benötigt wird,
um ohne Schaden für andere Komponisten die elektronische Musik
im Radio auf pauschal 212,5 Prozent festzusetzen (es betrifft eben
nur knapp 40 Komponisten mit kaum 10 Radio-Sendeplätzchen).
Sie können das ja mal nachrechnen. Genug für heute. Nächstes
mal rechne ich Ihnen was vor über die Schlüsselpunkte
zur Abrechnung von Live-Aufführungen elektronischer Musik,
aber jetzt muss ich dringend wieder zurück ins Studio: mein
Sample-Editor hat mir gerade neue Fourier-Transformationen meiner
aktuellen Radiokomposition ausgerechnet.
Anmerkungen
1 www.thomasedison.com/Inventions.htm
2 Gema-Jahrbuch 2003/2004, S. 313: Absch. X.1–3
3 Gema-Jahrbuch 2003/2004, S. 315: Absch. X.11