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2004/05 | Seite 24
53. Jahrgang | Mai
Musikvermittlung
Beinahe ein Gesamtkunstwerk
Zur Nussknacker-Produktion des Tonkünstler-Orchesters Niederösterreich
Marie und Fritz spielen vor einem dürren Weihnachtsbaum in
einem trostlosen Wohnzimmer irgendwo im Elendsviertel. Der Pate
Drosselmeyer, im Trenchcoat und mit heruntergezogenem Schlapphut,
verteilt großzügig Bananen, Waschmaschinen und einen
Fön – und gleichzeitig Angst und Schrecken unter seinen
Kumpanen und Damen aus der Halb- und Unterwelt. Nur wenig erinnert
den Zuschauer an die Geschichte des Nussknackers mit Lichterbaum,
Familienglück, Mäusekönig und Maries vorsichtigem
Blick in die Welt der Erwachsenen. Keine Geschichte für Kinder
möchte man meinen – doch gebannt sehen 1.000 Schüler
zwischen sechs und zehn im Festspielhaus St. Pölten auf die
Bühne, wenn Fritz den geheimnisvollen Drosselmeyer mithilfe
seiner Freunde fesselt und den kleinen Nussknacker seiner Schwester
Marie zerbricht.
Schließlich kennen die meisten von ihnen inzwischen beide
Geschichten zum „Nussknacker“: das Märchen der
kleinen Holzfigur in seinem Kampf gegen den Mäusekönig
genauso wie die Interpretation des Choreografen Nicolas Musin, der
Kindern und Erwachsenen von einem Fest des Träumens und der
Phantasie erzählt, das gegen die Einsamkeit und Traurigkeit
der Welt helfen soll.
Bettina Büttner, seit Sommer 2003 die neue Musikvermittlerin
des Tonkünstler-Orchesters Niederösterreich, hat für
die erste Produktion des Orchesters des Vermittlungsprogramm „Tonspiele“
ein umfassendes Vorbereitungspaket für Schulen zusammengestellt:
sie berichtet darin ebenso von unterschiedlichen Zugängen zu
einer Geschichte wie vom Leben Tschaikowskis oder den Orchesterinstrumenten
und dem Ballett als Kunstform. Sogar Bastelanleitungen für
Weihnachtsschmuck finden sich im kindgerecht aufbereiteten Material
neben praktischen Arbeitsblättern und Infotexten für Lehrer/-innen.
„Ich war mir nicht sicher, ob die Lehrer/-innen sich bevormundet
fühlen würden“, meint Bettina Büttner. Ganz
im Gegenteil, das Feedback aus der Grundschule war überwältigend.
Nicht zuletzt durch die engagierte Vorbereitungs-arbeit der Orchestermusiker
im Klassenzimmer. In zweistündigen Workshops führten die
Musiker die Kinder über Rhythmusspiele und Singübungen
zur Aneignung von Orchestermusik. Im Falle des Nussknackers brachten
sie eine vereinfachte Melodie des Marsches aus dem ersten Akt mit:
ta tatata ta ta ta ta ta, strichen die Triole und ließen die
Kinder dazu einen Text erfinden: „Kekse backen tu ich gern“.
Mit Begeisterung teilten sich daraufhin die Gruppen in Stabspiel-Instrumentalisten,
Sängern und Pantomimen, die zur Musik typisch weihnachtliche
Gesten wie Geschenke einpacken oder Keksteig ausrollen ausführten…
beinahe ein Gesamtkunstwerk, abgerundet durch Malen zur Musik des
Blumenwalzers.
„Wie kann ich auf einfachste Weise eine Melodie produzieren?
Man unternimmt alles, damit das Kind schnell ein Erfolgserlebnis
hat“ erzählt Thomas Hajek, zweiter Geiger bei den Tonkünstlern
nach seinem ersten Workshop in der Klasse. „Eine Lehrerin
hat zu mir gesagt: Ihr wirkt so unbekümmert natürlich
durch eure Fehler.“ Dies versteht er als Aufforderung an seine
noch zurückhaltenden Kollegen, den Weg in die Schule als Bereicherung
für sich selbst zu erfahren. Im Moment nehmen 15 von insgesamt
99 Tonkünstlern am Vermittlungsprogramm „Tonspiele“
teil. Die meisten von ihnen bringen keine pädagogische Vorbildung
von der Hochschule mit. Sie durchlaufen einen so genannten „Inset-Workshop“,
der ihnen in groben Zügen das Rüstzeug für die jeweilige
Produktion an die Hand gibt, das sie in der Schule anwenden können.
Als Coach für den „Nussknacker“ fungierte Albert
Landertinger, der bereits das Vermittlungsprogramm beim Brucknerorchester
Linz ins Leben gerufen hat. Die nächste Produktion, die im
Frühjahr für Schüler zwischen 10 und 14 Jahren stattfindet,
wird Hanne Muthspiel-Payer, Flötistin und Musikpädagogin,
betreuen, die gerade den Pilotstudiengang Musikvermittlung/Konzertpädagogik
an der Musikhochschule Detmold abschließt.
Für das darauf folgende Projekt wünscht sich Bettina Büttner,
es bereits ausschließlich mit Musikern aus dem Orchester konzipieren
und durchführen zu können. Aber auch internationaler Erfahrungsinput
ist nach wie vor gefragt. Im nächsten Herbst gibt es einen
Workshop für alle Musiker mit – erraten: Paul Rissmann.
Neben dem Tonkünstler-Orchester Niederösterreich und
dem Brucknerorchester Linz ging unlängst übrigens auch
das erste Wiener Orchester mit seinem neuen Vermittlungsprogramm
an die Öffentlichkeit: „Das Orchester zum Anfassen“
nennt sich die Initiative der Wiener Symphoniker: Dietmar Flosdorf
gestaltet dabei gemeinsam mit Orchestermusikern jeweils fünf
aufeinanderfolgende und aufeinander aufbauende Workshops in einer
Schulklasse. Welches der Kinder, das heute an den unterschiedlichen
Vermittlungsprogrammen teilnimmt, in zwanzig Jahren nun tatsächlich
an der Konzerthaus-Kasse steht, um eine Karte zu erstehen, bleibt
abzuwarten. Jedenfalls ist Leben in die Jugendarbeit der österreichischen
Orchester gekommen.