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nmz-archiv
nmz 2004/05 | Seite 41
53. Jahrgang | Mai
Bücher
Gruppenbild mit Komponist
Opulent und gehaltvoll: eine Nachlese zu den Früchten des
Berlioz-Gedenkjahres
„Ich glaube nicht, daß man Berlioz hätte begegnen
können, ohne überrascht zu werden durch den ureigenen
Ausdruck seiner Gesichtszüge. Seine hohe Stirn, scharf abgeschnitten
über den tief liegenden Augen, die auffallend stark gebogene
Habichtsnase, die schmalen, feingeschnittenen Lippen, das etwas
kurze Kinn, alles dies gekrönt von einer außerordentlichen
Fülle hellbraun gefärbter Locken, die ihr phantastisches
Wachstum nicht einmal durch das ordnende Eisen des Haarkünstlers
einbüßten – man konnte diesen Kopf nicht vergessen,
wenn man ihn einmal gesehen hatte.“
Ein Charakterkopf, von Pierre
Petit fotografiert, von Étienne Carjat karikiert.
Abbildungen aus dem Band „The Portraits of Hector
Berlioz“
Der Eindruck, den Ferdinand Hiller 1880 in seinen Erinnerungen
„Künstlerleben“ fest- hielt, drängt sich auch
bei der Besichtigung des wohl opulentesten Druckwerks auf, das uns
das vergangene Berlioz-Gedenkjahr bescherte. Die Fülle der
zu Lebzeiten des Komponisten entstandenen Porträts –
von Gunther Braam im letzten Band der nunmehr vollständigen
Gesamtausgabe bei Bärenreiter zusammengestellt – verdichtet
sich bei aller Vielfalt zu einem Berlioz-Bild, das über den
optischen Eindruck hinausweist. Hinter den Posen und Blicken der
Fotografien und Gemälde scheint der Mensch Berlioz mit unvergesslicher
Prägnanz durch, hinter den meist missgünstigen Karikaturen
(sie machen beinahe die Hälfte des Materials aus) tut sich
das ganze Panorama der musikalischen Öffentlichkeit Frankreichs
im 19. Jahrhundert auf. Die Konzentration auf die Darstellungen
des Komponisten selbst– darin unterscheidet sich der Band
von Ernst Burgers exemplarischen, auch andere Abbildungen und Dokumente
einbeziehenden Bildbänden zu Liszt, Chopin und Schumann –
hat ihre Vorzüge aber nicht nur in dieser Verdichtung des Blickes,
sondern sie bewirkt in der akribischen Beschreibung und Kommentierung
der hervorragend wiedergegebenen Abbildungen auch eine Aufwertung
des Einzeldokuments. Da werden Details aus unübersichtlichen
Gruppenbildern herangeholt oder von berühmten Fotos bisher
unveröffentlichte Varianten ans Licht geholt. Eine Fundgrube!
Wer im übrigen nur allzu gern ein Originalfoto, einen Brief
oder ein anderes Dokument rund um Berlioz sein eigen nennen würde,
der sei auf einen Katalog des Stuttgarter Antiquariats Erasmushaus
Musik verwiesen, der mit vielen Abbildungen und den genauen Beschreibungen
der Objekte nicht nur zum Kauf animiert (ist die eigenhändige
Skizze einer Orchesteraufstellung, Katalog-Nr. 5, € 7.800,
wohl noch zu haben?) sondern ganz einfach auch zum Blättern
und Lesen.
Ob die im Vergleich zu den Tonträgern insgesamt ergiebigere
Ausbeute auf dem Buchsektor mit einem stärkeren Nachholbedarf
im wissenschaftlichen Bereich zu erklären ist, mag dahingestellt
bleiben, die Qualität der Auseinandersetzung dürfte aber
zumindest ein Indiz dafür sein, dass das Jubiläum einem
sich verstärkenden Interesse gerade in Deutschland zusätzlichen
Schub verliehen hat.
Ein deutscher Blickwinkel dominierte auch den gleichwohl international
besetzten Kongress, der 2001 in Bayreuth um das Spannungsfeld „Berlioz,
Wagner und die Deutschen“ kreiste und nun in eine Publikation
des Kölner Dohr Verlages mündete. Wie in solchen Bänden
nicht ungewöhnlich, stehen neben grundlegenden Aufsätzen
(Rainer Schmusch: „Wagner und die Instrumentationslehre von
Berlioz“) solche, die ein interessantes Thema eher andiskutieren
als abhandeln (Peter Bloom: „Berlioz, Wagner and Politics“),
überraschen einzelne Beiträge stärker als andere
(Hans Vaget über Thomas Manns Berlioz-Anspielungen im „Doktor
Faustus“ oder Dominique Catteaus originelles Gedankenspiel
rund um Berlioz, Nietzsche und Wagner). Alles in allem aber ein
gehaltvoller, anregender Band, der sich zum Teil wie eine Fortsetzung
dessen lesen lässt, was Gunther Braam und Arnold Jacobshagen
– in vorbildlicher Präsentation – an Zeugnissen
der Berlioz-Rezeption in Deutschland zusammengestellt haben. Ein
kommentierter Pressespiegel zeitgenössischer Rezensionen rundet
auf faszinierende Weise einen Band ab, der in der Gegenüberstellung
der ersten Übersetzung der Instrumentationslehre mit dem (ursprünglich
in Einzelartikeln erschienenen) Original sein wohl bedeutendstes
Dokument besitzt.
Laden die bisher erwähnten Publikationen durchweg auch zum
ziellosen Schmökern ein, so geht es bei zwei weiteren Neuerscheinungen
schon ans wissenschaftlich Eingemachte. Klaus Heinrich Kohrs‘
akribische Analyse der biografischen Selbstinszenierungen und ihrer
Widerspiegelung in Kompositionskonzepten erweist sich dabei als
ebenso anspruchsvoll wie aufschlussreich, vorausgesetzt man lässt
sich auf die zahlreichen unübersetzten Brief- und Textzitate
ein. Und Oliver Vogel gelingt in seiner Berliner Dissertation ein
facettenreiches Bild der Entwicklung des Komponisten auf dem Weg
zur „Symphonie fantastique“. Einer Entwicklung, die
stärker von seinem Lehrer Lesueur und anderen institutionellen
Einflüssen geprägt ist, als man bei dem gerne als radikaler
Neuerer apostrophierten Berlioz annehmen möchte. Mit vielen
Notenbeispielen ist er bei aller Reflexion des Kontextes immer auch
nahe am Puls einer Musik, die man nicht vergessen kann, wenn man
sie einmal gehört hat.
Juan Martin Koch
The Portraits of Hector Berlioz, hg. von Gunther Braam,
Bärenreiter, Kassel etc. 2003 (Hector Berlioz, New Edition
of the Complete Works, Vol. 26), 401 S. + 205 S. (Übs. der
Begleittexte), Einführungspreis bis 31. Mai 2004: €
189,- danach: € 239,- ISBN 3-7618-1677-4
Berlioz, Wagner und die Deutschen, hg. von Sieghart Döhring,
Arnold Jacobshagen und Gunther Braam, Verlag Dohr, Köln 2003,
343 S., € 49,80 ISBN 3-936655-05-7
Hector Berlioz in Deutschland. Texte und Dokumente zur
deutschen Berlioz-Rezeption (1829–1843), hg. von Gunther
Braam und Arnold Jacobshagen, Hainholz Verlag, Göttingen
2002, 641 S., € 99,- ISBN 3-932622-42-1
Klaus Heinrich Kohrs: Hector Berlioz. Autobiographie als
Kunstentwurf, Stroemfeld/Roter Stern, Frankfurt/Basel 2003, 245
S., € 22,- ISBN 3-87877-872-4
Oliver Vogel: Der romantische Weg im Frühwerk von Hector
Berlioz, Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2003, 385 S., €
68,- ISBN 3-515-08336-7
Hector Berlioz. Hommage in Autographen zum 200. Geburtstag.
Katalog 4, Erasmushaus Musik, Stuttgart 2003, 60 S., Katalogzusendung
gegen Voreinsendung von 10 Euro (Gutschrift bei Kauf): Erasmushaus
Musik GmbH Mozartstraße 17, 70180 Stuttgart, Tel. 0711/60
02 46, Fax 620 77 46