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nmz-archiv
nmz 2004/05 | Seite 42
53. Jahrgang | Mai
Bücher
Platz drei in der Hitliste der Aktivitäten
Singen im Kindergarten: Ergebnisse und Rückschlüsse
einer Umfrage
Peter Brünger: Singen im Kindergarten. Wißner-Verlag,
Augsburg 2003, ISBN 3-89639-399-5, € 14,80
Seit geraumer Zeit nimmt in der Musikszene die Diskussion
um den Stellenwert des aktiven Musizierens von Kindern und Jugendlichen
einen breiten Raum ein. Beklagt wird in der Regel ein Mangel, den
meist die gesamte Gesellschaft oder zumindest „die anderen“
zu verantworten haben. Die einen bangen um den Nachwuchs an Konzertbesuchern,
die anderen um zukünftige Chorsänger und nicht zuletzt
die Hochschulen malen ein Szenario der Übernahme ihrer Häuser
durch Studenten aus anderen Ländern an die Wand. Neben diesen
nicht ganz zweckfreien und selbstlosen Warnrufen hört man allerdings
auch diejenigen, die vor allem um die persönlichkeitsbildende
Wirkung von Musik wissen und deren Verlust für jedes Kind als
Person fürchten. Der Fokus der Klage richtet sich dabei verstärkt
auf die allgemein bildenden Institutionen, auf Schule und Kindergarten.
Und nimmt man nun letzteren und dazu das musikpädagogische
Teilthema „Singen“ heraus, so fallen die Beurteilungen
meist schlecht bis katastrophal aus.
Pauschalurteile sind selten richtig und sie sind ob der daraus
zwangsläufig folgenden Polarisierung wohl nie dazu angetan,
positive Entwicklungen in Gang zu setzen. Gerade in der Diskussion
um das Singen im Kindergarten sind sich die Fachleute aber oft allzu
schnell einig: „In unseren Kindergärten wird zu wenig
gesungen. Es wird meist falsch – sprich zu tief – gesungen.
Die Qualität der Lieder ist in der Breite mangelhaft.“
Sicher sind diese Aussagen leider häufiger richtig als falsch,
aber man hört aus solchen gerade in Musikerkreisen nicht seltenen
Verdammungen im Unterton heraus: „die“ können’s
nicht und oft wollen sie auch nicht! Ob das die angesprochenen „die“,
also das pädagogische Personal der Kindergärten, zu einer
Reflexion der Situation und zum Aufbruch zu neuen Ufern motiviert?
Eher hilfreich ist sicher der Ansatz, vor der Wertung erst einmal
gezielt nachzufragen. Und genau dies hat Peter Brünger, Professor
für Musikpädagogik und Musikdidaktik an der Katholischen
Universität Eichstätt, mit seinem Buch „Singen im
Kindergarten“ getan, indem er je zwei Exemplare eines ausführlichen
Fragebogens an je 600 Kindertagesstätten in Bayern und in Niedersachsen
verschickt hat. Insgesamt also 2.400 Bögen, von denen immerhin
936 zurückgeschickt wurden. So darf die Studie zum einen durchaus
als repräsentativ angesehen werden und zum anderen zeigt die
Einbeziehung zweier Bundesländer einen ihrer interessantesten
Aspekte auf: die Fragestellung, ob im Vergleich der Regionen ein
Süd-Nord-Gefälle besteht.
Der Autor versucht im ersten Teil zunächst eine Bestandsaufnahme,
wie es um das Singen in der Familie, im Kindergarten und in der
Ausbildung des pädagogischen Kindergartenpersonals bestellt
ist. Die hier getroffenen Feststellungen sind wohl ebenso richtig
wie bereits allgemein bekannt und diskutiert. Es folgt ein Kapitel,
das die frühkindliche und vorschulische Entwicklung der Kinderstimme
in ihrer Idealform skizziert, um für die weiteren Überlegungen
einen Vergleichsmaßstab anzulegen. Freilich sind in diesem
Bereich „Standards“ nur mit großen Einschränkungen
festzulegen und jeder, der mit Kindern singt, weiß zu jedem
Punkt Gegenbeispiele zu nennen. Dennoch sind die Entwicklungsschritte
unzweifelhaft richtig und besonders die Schlussfolgerung, dass dem
Kindergartenalter eine entscheidende Bedeutung in der Entfaltung
der stimmlichen Ausdrucksfähigkeit zukommt, überzeugt
gerade im Bezug auf die Notwendigkeit einer Bezugsperson. Erst dann
folgt aber mit dem gut gegliederten und griffig aufbereiteten empirischen
Teil der Kern dieses Buches und für den Leser das „eigentlich
Neue“.
Die detaillierte Auswertung der Umfrage kann hier in ihren Ergebnissen
nicht annähernd wiedergegeben werden. Sie sollte aber zur Pflichtlektüre
für alle erhoben werden, die mit Kindern singen und noch mehr
für diejenigen, die hierfür übergeordnete Verantwortung
tragen. Es gibt da überraschende Ergebnisse zu entdecken wie
etwa die Tatsache, dass das Singen in der Rangfolge der Aktivitäten
im Kindergarten wider Erwarten auf Rang drei und damit sehr weit
oben rangiert – womit Vorurteil eins (siehe oben) sich als
solches entlarvt. Es gibt konkrete Materialien wie eine Hitliste
der Lieder, die von den Fachkräften im Kindergarten gesungen
werden – allein diese böte Stoff für eine tiefgehende
und fruchtbringende Diskussion, für die der Autor mit der Frage
„Woher bezieht das pädagogische Personal diese Lieder?“
eine Kernfrage anspricht. Und die vielfältigen Differenzierungen
im Hinblick auf das Lebensalter und den persönlichen Hintergrund
der Befragten sind dazu angetan, die Überlegungen bezüglich
Aus- und Fortbildung gründlich zu überdenken.
Die Schlussfolgerungen des Autors beziehen sich zentral auf die
Reform der Ausbildung des pädagogischen Personals. Diese Ausbildung
kommt zwar in Bayern in der Bewertung der Befragten „mit einem
blauen Auge“ davon, aber gerade bezüglich der Praxisrelevanz
ist das Urteil im Grunde genommen länderübergreifend vernichtend
– Jubel oder Überheblichkeit sind also im praktischen
Ergebnis weder in München noch in Hannover angebracht.
ewusstseinsbildung für die Bedeutung des Singens, Kenntnisse
über die Kinderstimme, ein Repertoire an Kinderliedern, Methoden
der Liedvermittlung und Instrumentalspiel zählen zum Forderungskatalog,
der sich aus der Befragung ableitet.
Solche Veränderungen sind freilich nur auf bildungspolitischer
Ebene zu erreichen, wozu Brünger im „Post-Pisa-Aktionismus“
durchaus eine Chance sieht. Mit dieser Studie und deren höchst
lesenswerter Zusammenfassung hat der Autor seinen Teil beigetragen.
Nun bleiben aber die zentralen Fragen: Werden diejenigen das Buch
lesen, die tatsächlich etwas bewegen können? Werden die
Lobbyisten der Verbände es nach der Lektüre nur als Nahrung
für weitere Klagen, weiteres Jammern benutzen oder leben sie
konsequent vor, was sie von anderen fordern? Und: Schaffen wir es
gemeinsam, den Hauptverantwortlichen – den Eltern! –
unser Anliegen positiv oder weiterhin nur mit erhobenem Zeigefinger
nahe zu bringen?