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nmz-archiv
nmz 2004/05 | Seite 29
53. Jahrgang | Mai
ver.die
Fachgruppe Musik
Jeder an seinem Platz
Über die Kluft zwischen Kultur und Konsum
SWR-Redakteur Armin Köhler, verantwortlich für die Donaueschinger
Musiktage, versucht, die Kluft zwischen Konsum und neuer Musik zu
verringern. Das Gespräch führte Burkhard Baltzer
Burkhardt Baltzer: Sind Sie ein Mensch mit einem Auftrag,
Armin Köhler? Bei Menschen, die in öffentlich-rechtlichen
Sendern angestellt sind, setzte man das früher voraus.
Redakteur Armin Köhler
im Studio. Foto: Jürgen Kleine
Armin Köhler: Auf jeden Fall! Ich überlege nur
gerade, ob es der Auftrag ist, der einem gegeben wird. Oder einer,
den man sich selber gibt aus dem Gewissen oder der Verantwortung
heraus: den spüre ich auf jeden Fall. Im Einsatz für das
Unangepasste, das Experimentelle – und da sehe ich meinen
Einsatz besonders für extreme Positionen. Das interessiert
mich grundlegend. Dann gibt es den öffentlichen Auftrag, den
ich hier beim Funk als Redakteur für neue Musik habe und als
Verantwortlicher für die Donaueschinger Musiktage. Es gibt
eine Menge Überschneidungen, Mischmengen, aus denen heraus
ich mich im Auftrag sehe, didaktisch für die Musik in die Gesellschaft
hineinzuwirken. Das vor dem Hintergrund der rasant wachsenden Analphabetisierung
auf musikalischem Gebiet. Dagegen neue Formen der Vermittlung im
Konzertbereich und im Radio zu finden, gerade auch für Unbekanntes
– das ist ein Auftrag, mein Auftrag.
Baltzer: „Glückliche Kinder“ können
Sie ja vorzeigen.
Köhler: Ein paar Kinder sind bestimmt geglückt:
Im Rundfunk ist es die „Hörgeschichte der Musik des 20.
Jahrhunderts“ – eine radiophone Präsentation von
Prozessen der Musikentwicklung, ohne dass es eine trockene Musikgeschichte
geworden wäre. Im Gegenteil: Die Hörgeschichte ist sinnlich,
mit Originaltönen und vielen Musikbeispielen und speziellen
dramaturgischen Kombinationen. Es geht um verschiedene perspektivische
Blicke auf Phänomene der Musikgeschichte. Und im Hinblick auf
Donaueschingen möchte ich meine zeitweise Forcierung der Klanginstallationskunst
erwähnen, womit ich dort 92/93 begonnen habe: Es gab damals
einen Riesenaufschrei in der Szene.
Es hieß: All das hat auf dem „Olymp der neuen Musik“
nichts zu suchen, während ich lediglich versicherte, es handele
sich um andere Wahrnehmungsformen von Musik des 20. Jahrhunderts
und eine andere Wahrnehmungspsyche. Ich wollte das vermischen, damit
etwas Neues entsteht. Mittlerweile ist das von vielen Musikfestivals
weltweit übernommen worden, selbst von Kammermusikfestivals:
Ist ja wunderbar! Inzwischen interessieren sich auch klassisch ausgebildete
Komponisten für diese Mischformen zwischen Installationstypus
und Darbietungstypus und entwickeln für 2006 und 2007 gar Orchesterwerke
als Installation. Das sind Ideen der Komponisten, dennoch glaube
ich, hier den Boden bereitet zu haben. Gut, das mag in der Luft
gelegen haben. Immer wieder zeigt sich, dass Dinge einfach in der
Luft lagen: Anfangs wählte ich thematische Klammern für
die Donaueschinger Programme, um so aus dem übergroßen
Angebot des „Anything goes“ keinen Eintopf werden zu
lassen. Ich finde es interessant, mit Themenklammern zu arbeiten,
nicht jedoch für Donaueschingen – wie ich heute weiß
–, weil der Messe- und Laborcharakter die zentralen Momente
dieses Festivals sind. Ich fixiere also niemanden mehr auf eine
Themen-Klammer, bekomme im Frühjahr und Frühsommer die
Partituren von den Komponisten, schaue sie durch und analysiere
– und siehe da: eine Klammer bildet sich vor dem inneren Auge.
Baltzer: Donaueschingen als „Messe“: Unter den
vielen Titeln, die Donaueschingen auch noch trägt, finden sich
„Börse“ und „Labor“. Welchen bevorzugen
Sie?
Köhler: Labor. Weil es nur noch ganz wenige Festivals
gibt, bei denen man solche Produktionsbedingungen vorfindet. 14
Tage Probenzeit für ein Orchesterkonzert mit höchstens
vier Kompositionen. Man vergleiche: Radio France gab letztes Jahr
ein Gastkonzert mit drei Uraufführungen und hatte dafür
nur drei Probentage. Labor auch wegen der kreativen Prozesse im
Vorfeld zwischen den Interpreten und Komponisten, dem Veranstalter
und den Produktionsmitteln wie dem Experimentalstudio, dem ZKM oder
anderen Partnern. Zusammengenommen hat das etwas enorm Inspirierendes.
Hier ist der Platz, wo die Kunst fern vom Marktgeschrei zu sich
selbst kommen kann. Eine Messe ist Donaueschingen zunehmend auf
Grund der wachsenden Zahl von Nebenveranstaltungen, von Pressekonferenzen
der Verlage, CD-Labels; die Gesellschaft für Neue Musik, Sektion
Deutschland, veranstaltet ihre Versammlungen, und permanent wächst
die Notenausstellung.
Geballte Gegenwart
Wir müssen dazu weiter stehen, zum Experimentieren und zum
Messetypus, denn wo sonst ist es möglich, sich in so komprimierter,
so qualitätsvoller Weise auszutauschen? Verlage, Presse, Rundfunk,
Fernsehen, Musikhochschulen, Komponisten und Musiker – alle
sind dort: Das ist die geballte Gegenwart, unsere Stärke, die
über Jahrzehnte gewachsen ist.
Baltzer: Wecken Messen nicht immer auch den Vorwurf der Beliebigkeit?
Köhler: Ja, wir müssen darauf achten.
Baltzer: Wie denn?
Köhler: Die Musiktage dauern nur zweieinhalb Tage,
da muss eine Auswahl getroffen werden, die freilich subjektiv sein
wird. Und immer wieder wird leider vergessen, dass ein Donaueschinger
Jahrgang nicht den grundlegenden Überblick über musikalische
Entwicklungen, Tendenzen und Produktionen geben kann. Erst die Summe
vieler Jahrgänge vermittelt ein Bild unserer Zeit. Das Donaueschinger
Angebot ist ja durch meine Auftragsvergabe schon vorgeprägt,
im Voraus schon eine subjektive Perspektive. Und wenn sich nach
Vorlage aller Partituren später ein thematischer Rahmen zu
erkennen gibt, dann wohl auch deshalb.
Baltzer: Sehen Sie weitere Entwicklungen, die sich analysieren,
sich schließlich bündeln lassen?
Köhler: Schematisch dargestellt sehe ich momentan
zwei grundlegende Pfeiler: Der eine ist die konsequente Fortsetzung
eines musikalischen Denkens, das im frühen 18. Jahrhundert
ausgebildet wurde und meint, Musik sei eine Sprache, besitze Sprachcharakter.
Diese Linie ist, syntaktisch und semantisch gesehen, bis heute nie
aufgegeben worden: nicht bei Zender, Rihm oder Kurtág und
anderen. Im 20. Jahrhundert aber setzt eine Linie ein, die inzwischen
eine ganz eigene Prägung bekommen hat. Sie beginnt mit Edgard
Varèse, mit George Antheil, mit Satie. Ich würde sie
„Musik als Plastik“ bezeichnen. Da gibt es keine linearen
Prozesse mehr, keine affirmativen Geschichten, sondern ein plastisches
Volumen.
Im Zentrum des kompositorischen Interesses stehen Augenblicke und
Ereignisse, steht das Faszinosum des Moments, steht das Verständnis
von Musik als Klangskulptur. Das Material ist in diesem Fall dem
Entwurf nicht mehr vorgelagert, sondern selbst Teil der ideellen
Gestaltung. Letztes Jahr in Donaueschingen war das sehr schön
zu verfolgen bei einem Orchesterstück von Georg Friedrich Haas
zum Beispiel. Deshalb ist der Raum für mich der Ort, wo alle
Künste andocken können; er ist der gemeinsame Nenner für
alle Künste für ihre immanenten Gemeinsamkeiten. War es
früher der Abstraktionsgrad der Musik, die der Bildenden Kunst
wichtige Anregungen vermittelte – denken wir an Klee, an Kandinsky
oder Schönberg –, kommen grundlegendere Anregungen heute
von der Bildenden Kunst. Das ist so. Und auch deshalb ist es gut,
dass es so etwas wie Donaueschingen gibt: Von hier aus können
die Musiker Netze auswerfen, sie können sich treffen mit Schriftstellern,
Malern oder Filmkünstlern. Da wird in Donaueschingen noch einiges
zu erleben sein.
Baltzer: Nur: Wie bringt man das alles „an den Mann“,
„an die Frau“? Welche Rolle spielt – abseits von
ideologischer Aufladung – die Sinnhaftigkeit von Kunst?
Köhler: Ich vertraue darauf, dass bereits die Kunst
als Kunst für sich spricht. Natürlich kann man –
und viele tun das derzeit – große Protestresolutionen
verfassen für den Erhalt kultureller Errungenschaften. Oder
man gibt – wie wir beim Rundfunk – geistiges Potenzial
wie die Hörgeschichte des 20. Jahrhunderts kostenlos an einen
Verlag ab, auf dass es preisgünstig über das Medium Radio
hinaus verbreitet wird. Damit sind wir bei den Sendezeiten: So,
wie wir verschoben wurden, ist das kontraproduktiv.
Baltzer: Sie sind bei einem Sender. Nicht nur in der Kommunikationstheorie
gibt es auch noch Empfänger. Wenn meine Bedürfnisse als
Empfänger vom Sender nicht mehr gepflegt beziehungsweise beliefert
werden, haben wir ein Problem. Eins könnte man so beschreiben:
Wenn ich morgens beim Kaffeetrinken zwischen 6.30 und 8.00 Uhr allein
die Musik des zweiten Programms Ihres Senders hörte, wüsste
ich überhaupt nicht, dass es das 20. Jahrhundert jemals gegeben
hat.
Köhler: Da haben wir gemeinsam ein Problem. Glücklicherweise
gibt es Donnerstagnachmittag immer noch die Sendung „Musik
kommentiert“. Ein Problem ist die Sendezeit nach 23 Uhr, wo
man erwiesenermaßen weniger aufmerksam hört. Wir tun
etwas dagegen: Gemeinsam mit dem Lernradio in Karlsruhe planen wir
ab 2005 ein Lexikon musikalischer Begriffe. Jeden Tag wird zehn
Minuten lang ein Begriff der Musik von Studenten in ihrer Sprache
erklärt. Damit finden wir zurück zum alten Lernradio,
wie wir es vor 30 Jahren mal hatten, den Schulfunk.
Lernradio und Schulfunk
Baltzer: Glauben Sie, dass sich damit die immens gewachsene
Kluft zwischen dem Gegenwartsschaffen und der Konsum-Musik verringern
wird? Was ist dagegen zu tun?
Köhler: Jeder soll das tun, was er tun kann. Er soll
es als Zeitgenosse tun – und zwar an der Stelle, an der er
schalten kann. Wir werden uns – davon bin ich überzeugt
– auf die Kernaufgabe des Rundfunks besinnen. Nirgends steht:
Ihr Rundfunkleute müsst Kompositionsaufträge vergeben,
die Kompositionen mit Euren Orchestern einüben, aufführen,
aufnehmen und senden. Das wird dennoch getan. Und es gibt ein Urteil
des Bundesverfassungsgerichts, wonach wir unser Archiv beständig
um Kunst der Gegenwart erweiten müssen, wir dürfen also
keine bloße „Abspieleinrichtung“ sein. Mit Donaueschingen,
mit dem Eclat-Festival, erfüllen wir die Aufgabe zu 100 Prozent.
Wir sind beim SWR Vorreiter, man denke nur an den Abbau bei Radio
Bremen oder den ORB mit wöchentlich einer halben Stunde Sendezeit
für neue Musik.
Baltzer: Sorgen Sie sich nicht angesichts dieser Entwicklung?
Köhler: Natürlich macht mir das Angst. Wir erleben
gerade den Generationswechsel: Die alten Manager gehen. Die neuen
behaupten, es werde nicht wegen der Inhalte Radio gehört, sondern
es werde Radio gehört, um Radio zu hören. Die Großkritiker
mit ihrem Wissensreichtum verabschieden sich in den Ruhestand. Im
Deutschen Musikrat will man statt neuer Musik verstärkt Pop-Musik
fördern. Dies alles vor dem Hintergrund von Verteilungskämpfen
um immer geringer werdende finanzielle Ressourcen. Wenn sich die
Szene für neue Musik nicht ganz stark positioniert, haben wir
keine Chance zu überleben.
Wir könnten von der Bildenden Kunst beispielsweise sehr viel
von der Kontextualisierung lernen – was man beispielsweise
für spannende und herrliche Konzertprogramme gestalten könnte.
Generell: Künstler sein heißt heute mehr, als am Schreibtisch
ein paar Fliegendreckkleckse zu produzieren oder in den Computer
hineinzukomponieren. Künstler sein heißt heute für
mich, sich als Persönlichkeit einzubringen, auch politisch
zu sein – etwa in dem man sich der Aufweichung des Kulturbegriffs
entgegenstellt. Das meinte ich mit Positionierung. Das meine ich
mit: Jeder an seinem Platz.