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nmz-archiv
nmz 2004/06 | Seite 5
53. Jahrgang | Juni
www.beckmesser.de
MSG
Mit der Schlagzeile „Ausbildungsplätze auch für
Analphabeten?“ verhalf im April „Die Welt“ der
Argumentation der Arbeitgeber im Lehrstellenstreit zu publizistischer
Breitenwirkung. Der Streit erreichte damit eine neue Stufe, denn
die Taktik, eine verschwindende Minderheit ins Zentrum des Ausbildungsgeschacheres
zu rücken, suggerierte: Die Betroffenen sind selbst schuld.
Man kann über Sinn und Praktikabilität der „Ausbildungsplatzabgabe“
durchaus geteilter Meinung sein. Aber was an dieser Formulierung
so anstößig wirkt, ist die Tatsache, dass die Schwächsten
an den Pranger gestellt werden, um von der eigenen Verantwortung
abzulenken. Denn das Problem liegt beim Bildungssystem als Ganzem
und nicht bei einzelnen Jugendlichen. Die Taktik von Politik und
Wirtschaft, die Verantwortung für eine funktionierende Ausbildung
wie einen Schwarzen Peter hin und her zu schieben und die jeweils
andere Seite „in die Pflicht zu nehmen“, ist charakteristisch
für die zunehmende Unfähigkeit der Gesellschaft, in grundlegenden
Fragen zu einem Minimalkonsens zu kommen.
Die Lehrstellendiskussion ist nur ein, wenn auch besonders auffälliges,
Symptom für die Ideenlosigkeit, mit der heute mit Bildung verfahren
wird. Ähnlich läuft’s bekanntlich in der Musikausbildung,
wobei hier erschwerend hinzu kommt, dass das Fach zunehmend als
überflüssig betrachtet wird. Niemand malt hier wie im
Bereich der Wirtschaft die Gefahr an die Wand, dass im Falle eines
Ausbildungsfiaskos in zwanzig Jahren einige Millionen Fachkräfte
fehlen werden.
Schon heute scheinen viele zu glauben, musikalische Fachkräfte
seien bis dahin sowieso überflüssig. Für sie liegt
die Lösung des Problems vermutlich in einem grundgesetzlich
verbrieften Anspruch auf pausenlose Gratisbeschallung, finanziert
von hochmögenden Sponsoren. Im Pausenfoyer der Philharmonie
wäre dann auf einem Bildschirm zu lesen: „Dieses akustische
Ambiente wird Ihnen präsentiert vom Wellness Department der
Firma Bertelsmann.“
Der durch die Pisa-Studie dokumentierte schleichende Niedergang
der Schulen hat bereits vor vielen Jahren begonnen. Das gilt auch
für den Musikunterricht. Wenn der Walkman das eigene Musikmachen
ersetzt, steht natürlich auch der engagierteste Musiklehrer
auf verlorenem Posten. Doch die Phase der verschärften Dekadenz
hat erst vor wenigen Jahren eingesetzt, als Schröders Hausphilosoph
Nida-Rümelin – wer erinnert sich noch an den glücklosen
Politsurfer der bunten Boomjahre um 2000? – sozusagen regierungsamtlich
die Meinung kundtat, man sollte an den Schulen nun Popmusik als
Unterrichtsfach einrichten. Alle, denen eine Mozartarie schon immer
ein Greuel gewesen ist, sind ihm noch heute dankbar für diesen
Reformvorschlag.
Die Einsicht in die Macht des Faktischen – die Jugend will
Pop! – und den damit verbundenen Reformbedarf ist inzwischen
auch zum Deutschen Musikrat durchgesickert. Seit seiner wundersamen
Errettung aus der selbstverschuldeten Beinahe-Pleite leidet er wohl
unter einer Bringschuld und hat unter den gefälligen Blicken
der Unterhaltungsindustrie begonnen, sachte das Ruder herum zu legen.
Populismus? Mitnichten. In einer demokratischen Gesellschaft hat
man sich schließlich den Mehrheitsverhältnissen zu fügen.
Und die sprechen nun mal leider, leider nicht zu Gunsten einer Mozartarie.
Wir bitten um Ihr Verständnis. Ihr Leitungsteam. – Und
ganz demokratisch, weil die E-Komponisten zu blöd waren, zur
Mitgliederversammlung zu gehen, wird gegenwärtig ja auch die
GEMA auf die neuen ästhetischen Mehrheitsverhältnisse
umgestellt.
Unten an der Basis, an der sich bekanntlich in einer Demokratie
alles Wichtige entscheidet, werden unterdessen weitere Weichen gestellt.
Von oben. Zur Verbesserung der Musikausbildung wird an den Grund-
und Hauptschulen in Baden-Württemberg laut Bildungsplan 2004/05
ein neues Fach eingerichtet: MSG. Das ist die Abkürzung für
„Musik/Sport/Gestaltung“ und bedeutet, dass aus Gründen
einer effizienteren Lehrplangestaltung die Fächer Musik, Sport
und Zeichnen zusammengelegt werden zu einer Art musischen Gesamtveranstaltung,
die der ganzheitlichen Ertüchtigung der Schüler dienen
soll.
Wenn man etwa Deutsch, Geschichte und Gesellschaftskunde oder
Mathematik und Chemie zusammenlegte, würde die Absurdität
dieser kostensparenden Verschlankungsmaßnahme vermutlich schnell
erkannt. Beim Schulfach Musik ist das offenbar anders. Das Ganze
sieht nach Resteverwertung aus – ein Fächereintopf, aus
dem vielleicht so etwas wie Rock Dance oder rhythmisches Graffitti-Malen
mit dem Knopf im Ohr resultieren kann, aber sicher keine differenzierte
Auseinandersetzung mit Musik. Der Umgang mit musikalischer Industrieware
stünde vermutlich im Vordergrund.
Rechnet diese Art von Bildungspolitik vielleicht damit, dass eine
Vermittlung spezifischer musikalischer Kenntnisse an Grund- und
Hauptschulen ohnehin aussichtslos ist, und dass es hier nur darum
gehen kann, den angehenden Konsumenten von kultureller Massenware
auf ein angemessenes Freizeitverhalten vorzubereiten? Abgesehen
davon, dass dieser Typus von Kulturkonsument für den Konzertsaal
dann endgültig verloren wäre, würde auch die Basis
für die musikalische Spitzenförderung gefährlich
verschmälert. Die Zahl der Orchestermusiker und damit der Orchester
würde sich auf eine gleichsam natürliche Weise verringern.
Und die Zeitung „Die Welt“ fände dann wieder einmal
Gelegenheit zu einer besorgten Schlagzeile: „Orchesterstellen
auch für Nichtnotenleser?“