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nmz-archiv
nmz 2004/06 | Seite 44-45
53. Jahrgang | Juni
Oper & Konzert
Hören und sehen lernen bei intelligenter Neuer Musik
Wittens Kammermusiktage gewinnen für die Entwicklung und
Beobachtung heutigen Komponierens immer größere Bedeutung
Die Wittener Tage für neue Kammermusik haben sich in den
vergangenen Jahren förmlich zu einem Seminar für gegenwärtiges
Musikschaffen entwickelt. Harry Vogt, zuständiger Redakteur
für neue Musik beim Westdeutschen Rundfunk Köln und zugleich
künstlerischer Leiter der Kammermusiktage, schätzt für
seine Programme die thematischen Setzungen. Statt beliebiger Anhäufungen
von Stücken werden Programme sozusagen „komponiert“,
Querverbindungen zwischen Komponisten und Werken hergestellt, aktuelle
Tendenzen registriert, auch Bögen zurück zu den jeweiligen
Entwicklungen in der Neuen Musik geschlagen. Die ebenfalls von Harry
Vogt konzipierten „Musik der Zeit“-Programme im Westdeutschen
Rundfunk haben auf diese Weise ein äußerst scharfes Profil
gewonnen, was auch für die Wittener Kammermusiktage gilt.
Als Stichwort für die Auswahl der diesjährigen Witten-Werke
bietet sich der Begriff „Mikro“ an: Die Komponisten
erkunden mikrotonale Zwischenräume, entfalten, wie Brian Ferneyhough
in seinen „Funérailles“, Mikroaktivitäten,
operieren mit drittel- und vierteltönigen Skalen, differenzieren
das Tonsystem bis hin zur Auflösung selbst der Mikrotonalität.
Was dabei gewonnen wird, ist eine oft erregende klangfarbliche Vielfalt,
an deren Herstellung sowohl analoge wie digitale Klangerzeuger beteiligt
sind. Eng verbunden mit dieser Klangdifferenzierung ist auch das
Thema der Stille in der Musik, speziell der Neuen Musik, worüber
sich im Programmbuch der Wittener Musiktage 2004 ein informativer
Beitrag von Tobias Plebuch findet.
In der Verfeinerung der musikalischen Ausdrucksmittel bis hin
zur komponierten Stille darf man zugleich aber auch eine Form des
gesellschaftlichen und politischen Protestes sehen: Gegen das immer
lauter werdende, unartikulierte Brüllen der realen Welt setzen
die Komponisten bewusst das Leise, die ruhige, präzise und
überlegte Argumentation. Luigi Nonos „Prometeo“,
vom Komponisten als „Tragödie des Hörens“
bezeichnet, oder Luciano Berios Oper „Un re in ascolto“
mögen als markante Beispiele für diese innere Protesthaltung
genannt sein.
Komponist Klaus Huber (r.)
mit dem Dirigenten Peter Rundel bei den Vorbereitungen für
die Uraufführung von Hubers Kammerkonzert „A
l’áme de marcher sur ses pieds de soi...“
für Solo-Violoncello, Countertenor, Solo-Baryton und
kleines Instrumental- Ensemble. Foto: Charlotte Oswald
Auch in Witten traf man auf vielgestaltige Formen eines künstlerisch
gestalteten Protestes. Wenn der achtzigjährige Schweizer Klaus
Huber sein Kammerkonzert für Solo-Violoncello, Countertenor,
Solo-Bariton und neun Instrumentalisten „. . . à l’ame
de marcher sur ses pieds de soie. . .“ zu einem Text des palästinensischen
Dichters Mahmoud Darwisch auf Maqamat-Strukturen der arabischen
Musik aufbaut, dann offenbart sich in dieser Adaption der musikalischen
Mittel auch ein Einspruch gegen den derzeitigen Zustand des politischen
Bewusstseins, das den Menschen nur mehr als verdinglichte Sache
betrachtet, mit der man Kriege führen und Handel treiben kann.
Klaus Hubers musikalisches Denken impliziert stets auch übergreifende
politische Perspektiven. Da ein solches Denken bei Huber emotionale
Beteiligung nicht ausschließt, entsteht immer auch eine Musik
von expressiver Klangfülle, die wiederum durch die Präzision
des Komponierens gebändigt erscheint. Auch das neue Werk, eine
Art Ableitung aus dem vor zwei Jahren in Donaueschingen uraufgeführten
Kammerkonzert „Die Seele muss vom Reittier steigen...“
auf einen Text des palästinensischen Dichters Mahmoud Darwisch,
besticht durch die Dichte der kompositorischen Textur und durch
eine beeindruckende Innenspannung, was in der hervorragenden Interpretation
des Werkes durch den Cellisten Walter Grimmer, den Countertenor
Kai Wessel, den Baryton-Spieler Max Engel und das Collegium Novum
Zürich unter Leitung von Peter Rundel plastisch erfahrbar wurde.
Vergleichbare kritische Implikationen findet man auch in Heinz Holligers
Liederzyklus „Puneiga“, zehn Lieder mit Zwischentexten
nach mundartlichen Gedichten der aus dem Piemont stammenden Dichterin
Anna Maria Bacher: eine subtil komponierte, gleichwohl expressiv
bewegende Klage über den Verlust einer eigenen Sprache, mit
dem zugleich persönliche Identität und Heimatgefühl
verloren gehen. Holligers Liederzyklus zeigt, dass es durchaus noch
möglich ist, den tradierten Stil einer Lied-Text-Vertonung
zu differenzieren, punktuell neu zu belichten, ohne dabei die narrativen
Zusammenhänge zu atomisieren. Auch hier wieder eine glänzende
Interpretation durch die Sopranistin Sylvia Nopper und das Collegium
Novum Zürich unter Leitung des Komponisten.
Was bei den diesjährigen Kammermusiktagen besonders auffiel,
war die starke Präsenz Deutsch-Schweizer Komponisten und Interpreten.
Absicht oder Zufall? Wer die Wechselbeziehungen zwischen deutscher
und schweizerischer Kultur, auch und besonders in der Literatur,
durch die geschichtlichen Zeiten verfolgt, stößt immer
wieder auf ein Phänomen: In Krisenzeiten der deutschen Literatur
blühte in der Schweiz das literarische Leben auf – man
denke nur an die Zeit Bodmers und Breitingers, oder an die Jahre
nach dem Zweiten Weltkrieg, als Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt
die wichtigsten aktuellen Beiträge zur deutschsprachigen Literatur
beisteuerten. Klaus Huber und Heinz Holliger gehören heute
zu den deutschsprachigen Komponisten in der Schweiz, die im Sinne
eines engagierten Komponierens zugleich einen politischen und moralischen
Anspruch formulieren, der weit über die rein ästhetischen
Implikationen hinausdrängt.
Obwohl er inzwischen auch die österreichische Staatsangehörigkeit
besitzt, darf man auch den Schweiz- Österreicher Beat Furrer
dieser Richtung zuordnen: In seinem vierzigminütigen dritten
Streichquartett führen viele oft hinhuschende Einzelton-Gesten
schließlich in einen größeren Zusammenhang –
ein faszinierender kompositorischer Prozess, den man auch symbolisch
sehen kann: als angestrengten Versuch, der drohenden Vereinzelung
aller (Lebens-)Elemente entgegenzuwirken, wieder in größeren
Dimensionen zu denken und zu fühlen. Die Wiedergabe durch das
Arditti String Quartet war schlechthin überwältigend,
weil sie nicht nur präzis die komplizierte Struktur umsetzte,
sondern auch die Zusammenführung der Einzelteile zum Großformat
im Blick behielt.
Thomas Lehn am Analog-Synthesizer
und Markus Schmickl am Computer führen ihre Performance
„Real virtual“ vor.
Alle Fotos: Charlotte Oswald
Dass Schweizer Komponisten sich vor Eigenwilligkeiten nicht scheuen,
bewies Roland Moser mit seinem Werk „Oszillation und Figur“
(aus den Ritterfragmenten) für zwei Celli, zwei Kontrabässe,
zwei Klaviere und eine Bassflöte: Eine Musik, die sich in die
Gedankenwelt des schlesischen Physikers Johann Wilhelm Ritter (1776
bis 1810) hineinzutasten versucht. Ritter gilt als Erfinder der
Elektrochemie, schuf eine Vorform des Akkumulators, doch beschädigte
er seinen wissenschaftlichen Ruf durch allerlei spekulative „Wünschelrutenversuche“,
wie es in einem Lexikon heißt. Roland Moser fiel zu allem
eine Musik ein, die durch Klangimagination und lebendige Gestik
beeindruckte. Ein schöner Gedanke war es auch, in diesem Zusammenhang
wieder einmal an den Grand Old Man unter den Schweizer Komponisten
Jacques Wildberger zu erinnern: Sein „Kammerkonzert (Erkundungen
im Sechsteltonbereich)“, geschrieben 1995/96, für Saiteninstrumente
und Synthesizer erwies sich unter den vielen Stücken, die in
Witten erklangen, als eines der frischesten, inspiriertesten, weil
es Wildberger gelungen ist, das Experimentelle, das aus dem gewählten
Tonsystem zwangsläufig folgt, in einen vitalen Musik-Sprach-Gestus
zu überführen.
Zu einer engagierten Musik muss man auch Nikolaus A. Hubers Ensemblestück
„Werden Fische je das Wasser leid?“ rechnen –
eine Musik mit Neglect-Syndrom für Sopran und Instrumentalisten:
Komponieren als schmerzhaft-heftiger Reflex auf aktuelle politische
Zustände in der Welt, die existentiell bedrohliche Gefühle
auszulösen vermögen. Das war von Nikolaus A. Huber in
Gestus und Ausdruck präzis getroffen, ebenso wie der Österreicher
Klaus Lang in seiner Komposition „berge.träume“
für Violoncello und Chor das Wachsen und Verschwinden von „Bergen“
als Klangchiffre eines drohenden Naturverlustes in subtil ausbalancierten
Oberton-Sphären ansiedelt.
Was bei den diesjährigen Tagen für neue Kammermusik besonders
auffiel: In der Vielzahl der einzelnen Werke und unterschiedlicher
Stile und Schreibweisen zeichnet sich eine bemerkenswerte Hinwendung
wieder zur autonomen Komposition ab, deren Struktur sich quasi aus
sich selbst entwickelt.
Das Impressionistische, das plane Zitat aus anderen Genres scheint
aus der Mode. Dass Wolfgang Rihm so arbeitet, weiß man: Sein
neues Stück mit dem bezeichnenden Titel „Fetzen“
für Akkordeon und Streichquartett begeistert durch einen bewusst
„fetzigen“ Gestus, der die komponierten Bruchstücke
straff zusammenhält. Aber auch Toshio Hosokawas Stück
„Mein Herzensgrund, unendlich tief“ für Marimba
und Stimmen, Stefano Gervasonis „Streichsextett“, Giorgio
Nettis Ensemblestück „dall’empedocle: tre tempi“
oder Philipp Maintz‘ Musik für Streichquartett „Inner
Circle“ demonstrierten schlaglichtartig, dass das kompositorische
Denken in mehr oder weniger strengen Strukturen keinesfalls „out“
ist, vielmehr in der Lage, dem neuen Musikschaffen trag- und entwicklungsfähige
Substanz zuzuführen. Das gilt auch für die beiden neuen
Performances: Thomas Lehn und Markus Schmickler bedienen Analog-Synthesizer
und Computer so behende und phantasievoll, dass die Klangergebnisse
eine fast emotionale Vitalität entfalten. Etwas aparter und
nicht weniger lebendig die Performance von Andrea Neumann am Innenklavier
und Mischpult, wozu sich Sabine Ercklentz mit Trompete und Live-Elektronik
gesellt.
Witten 2004 war ein besonders spannendes Festival der Neuen Musik,
das viele Perspektiven eröffnete und sich noch mehr als sonst
eines erstaunlich großen Publikumszuspruchs erfreuen durfte.
Dies erscheint umso bedeutsamer, je länger die alten Vorurteile
und Behauptungen zu vernehmen sind, die neue Musik interessiere
nur wenige Experten. Im Übrigen können wir an dieser Stelle
nur wiederholen, was wir unentwegt vortragen: Neue Musik gewinnt
ihre Legitimation nicht aus der Größe des Publikumzuspruchs,
sondern einzig und allein aus dem Werk, mit dem die Geschichte der
Musik fortgeschrieben wird.