[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2004/06 | Seite 1, 10
53. Jahrgang | Juni
Leitartikel
Musik macht jetzt Schule
Es war ein wenig still geworden um den Deutschen
Musikrat (DMR) auf unseren nmz-Seiten. Der Hintergrund: Ein Konsolidierungsprozess
ist für jeden Organismus eine ebenso entscheidende wie sensible
Situation. Da sind Außen-Einflüsse eher störend.
Der Musikrat befand sich in der gravierendsten Umbruchphase seiner
Existenz. Sie scheint vorläufig abgeschlossen. Die Insolvenz
ist behoben, als neuer Generalsekretär setzt Christian Höppner
deutliche erste Akzente. Dazu liefert das Präsidium kräftige
Farben: Mit dem aktuellen Thema „Musik in der Ganztagsschule“
beschäftigte sich ein Kongress in Königstein, zu dem der
Rat rasch auf zeitgenössische politische Ansprüche reagierend
geladen hatte. Eine ausführliche Kongress-Berichterstattung
liefern wir in der kommenden Ausgabe nach. Zeitnah präsentieren
wollen wir das „offizielle“ Ergebnis des Treffens, ein
Positionspapier des DMR, um die öffentliche Diskussion zu befördern
und eine Neuerung zu dokumentieren: Der Musikrat bezieht nicht mehr
vorwiegend inhaltlich, sondern ganz konkret politisch Stellung.
Zum Kongress-Ende wurde der Text Doris Ahnen, Bildungsministerin
von Rheinland-Pfalz und derzeitige Vorsitzende der Kultusministerkonferenz
überreicht. thg
Positionspapier des Deutschen Musikrates
Der Deutsche Musikrat begrüßt den bildungspolitischen
Willen, das System Ganztagsschule (in der gebundenen, halboffenen
oder offenen Form) einzuführen.
Diese Bestrebungen sind zu sehen vor dem Hintergrund des in den
letzten Jahrzehnten eingetretenen gesellschaftlichen Wandels (Veränderung
der ökonomischen Rahmenbedingungen, der Arbeitsmarktsituation,
des sozialen Gefüges, der zunehmenden kulturellen Vielfalt
in der Bundesrepublik Deutschland).
Diese gesellschaftlichen Veränderungen wird auch die „Schule“
in Rechnung stellen müssen. Das heißt, das System allgemein
bildende Schule wird sich zunehmend intensiver im Hinblick auf eine
komplexer gewordene Gesellschaft in differenzierter Form öffnen
müssen. Die „Bildungspolitik“ hat Konsequenzen
aus diesen Veränderungen unter anderem in der Weise gezogen,
dass sie erneut die Ganztagsschule (in den zuvor erwähnten
Formen) in die öffentliche Diskussion eingebracht hat.
Für „Musik in der Schule“ bedeutet dieses beispielsweise,
dass die gesamte vielgestaltige Breite der in unserer Gesellschaft
vorhandenen musikalischen Praxen auch in der Schule ihren Ort haben
muss und dass sie ein Moment ist, an der die Qualität von Schule
überhaupt gemessen wird. Denn die in der musikalischen Praxis
und Reflexion von den Schülerinnen und Schülern zu gewinnenden
Fertigkeiten und Einsichten entscheiden über deren Bild in
unserer Gesellschaft und überschreiten, wie wir inzwischen
genauer wissen, den Bereich des „Nur-Musikalischen“.
Insofern gewinnt auch der Begriff der „musikalischen Bildung“
einen ganz neuen Inhalt.
Aber nicht allein für das System der allgemein bildenden
Schule und die darin verortete Musik zeichnen sich grundlegende
Veränderungen ab. Die Ganztagsschule wird neue Lern- und Lehrformen
in das System Schule einbringen unter anderem auch dadurch, dass
bisher in der Schule nicht vertretene, jedoch unabdingbar notwendige
ästhetische und pädagogische Perspektiven durch die Einbeziehung
von unterschiedlichen Kooperationspartnern zur Geltung kommen. In
diesem Zusammenhang ist nicht nur an eine Kooperation mit den Musikschulen
gedacht, sondern auch an freie und institutionelle Partner aus der
gegenwärtigen kulturellen Szene: Theater, Orchester, Chöre,
Kirchen, Kulturbüros, Rundfunk und Fernsehen sowie freie Musikgruppen
und Vereine bieten ein bisher nicht einbezogenes breites und perspektivenreiches
Angebot für eine Zusammenarbeit in der Schule. Mit den im Rahmen
der Ganztagsschule ermöglichten neuen Lern- und Lehrformen
verbindet sich andererseits gerade auch für Schülerinnen
und Schüler ein bisher nicht ausgeschöpftes Erfahrungsspektrum.
Denn außerschu- lisch geprägter Umgang mit Musik bildet
ein notwendiges Pendant zum musikbezogenen Lernen in der Schule.
Leitperspektiven
Der DMR ist der Auffassung, dass die gebundene Form der Ganztagsschule
durch die spezifische Form ihrer Struktur und Organisation (Variabilität
des Zeitbudgets, Rhythmisierung des Schulalltags, erhöhte Flexibilität
und Planungssicherheit bei musikalischen Projekten) besonders gut
die ihr zugedachten musikpädagogischen Aufgaben erfüllen
kann. Der DMR hat seinem Kongress „Musik in der Ganztagsschule“
vom 20. bis 22. Mai 2004 in Königstein folgende Leitperspektiven
entwickelt, die es in der Entwicklung von Kooperationen mit außerschulischen
Partnern zu berücksichtigen gilt. Diese angesteuerten Kooperationen
können nicht in der Weise realisiert werden, dass der schulische
Musiklehrer durch außerschulische Kooperationspartner beziehungsweise
der Musikunterricht durch Instrumentalunterricht (der durchaus „ein“
Instrument des Musikunterrichts sein kann) ersetzt wird.
1. Nachhaltigkeit
Kooperationen können nicht darauf hinauslaufen, dass einzelne
Highlights präsentiert werden, die Eventcharakter tragen, aber
in ihrer Wirkung äußerst begrenzt sind. Vielmehr geht
es darum, dass durch Kooperationen Projekte entstehen, die auf eine
längerfristige Wirkung für „Musik in der Schule“
und damit auch auf das Leben der betreffenden Schule insgesamt zielen.
2. Kontinuität
Kontinuität ist ein entscheidendes Moment der Bildung von
nachhaltigen musikpädagogischen Maßnahmen, die darauf
abzielen, in den Kindern und Jugendlichen ein vielgestaltiges Bild
von musikbezogener Erfahrung zu entwickeln und damit einen entscheidenden
Beitrag zu einer neuformulierten musikalischen Bildung zu leisten.
3. Qualitätsstandards
Qualitätsstandards können nicht von außen dekretiert
werden, sondern müssen von den unterschiedlichen Partnern gemeinsam
entwickelt werden. Sie orientieren sich entscheidend an der gesellschaftlichen
Musikpraxis unserer Zeit und leisten damit ihren substanziellen
Beitrag zu einem sinnvollem und verantworteten Umgang der Schülerinnen
und Schüler mit Musik in ihrer ganzen Breite.
4. Integrative Formen der Kooperationen
Musikalisch-ästhetisches Lernen und Arbeiten zielt in gleichem
Maße auf die Ausbildung von Handlungsfähigkeit und Reflexion.
Ihre Mehrgestaltigkeit erzwingt ein kooperatives Handeln aller an
den schulischen Erziehungsprozessen beteiligten Partner. Es lassen
sich eine additive und eine integrative Form denken. Der DMR votiert
für eine im Regelfall integrative Kooperation, die die Notwendigkeit
der Mehrgestaltigkeit sicherstellt.
5. Entwicklung von Rahmenvereinbarungen
Kooperationen bedürfen in jedem Fall eines inhaltlichen und
institutionellen Rahmens. Dieser ist in Absprache der Kooperationspartner
untereinander herzustellen. Dabei ist daran festzuhalten, dass Spannungen
zwischen den außerschulischen Musikpraxen und der Schule als
Lernort für Schülerinnen und Schüler miteinander
in Übereinstimmung gebracht werden. Diese Rahmenvereinbarungen
müssen enthalten: Maßnahmen zur Absicherung der beteiligten
Personen, insbe- sondere aber auch Garantien im Hinblick auf die
Schülerinnen und Schüler für die Sicherstellung einer
kontinuierlichen kooperativen Arbeit sowie Aufgaben, Formen der
Zusammenarbeit (hier insbesondere der Raumbelegungen und der vereinbarten
Zeiträume), Pflichten und Rechte der beteiligten Personen und
Institutionen.
6. Vernetzung von Initiativen
Die stärkere Einbindung von gesellschaftlichen Musikpraxen
in die Ganztagsschule einerseits und die Öffnung der Schule
in Richtung auf die daran beteiligten Partner andererseits macht
eine Vernetzung aller Aktivitäten sowohl zwischen der Schule
– als musikbezogener Lernort – und der an der musikpädagogisch
verantworteten Ausgestaltung dieses Lernortes (mit-) wirkenden Partner,
aber auch der Partner untereinander sinnvoll und erforderlich. Hierbei
lassen sich unterschiedliche Formen der Netzwerkbildung denken:
kontinuierliche Arbeitskreise, Koordinatoren oder Internet-Portale.
Aufgerufen für die Netzwerkbildung sind die Schulen selbst,
die Schulverwaltungen, die Verbände und Vereine.
7. Konsequenzen für die Aus-, Fort- und Weiterbildung
Von den angestrebten Kooperationen, von gemeinsam erstellten Rahmenvereinbarungen
und von der Vernetzung unterschiedlicher Ebenen und Niveaus her
gesehen, kann die Ausbildung der Musiklehrerinnen und -lehrer nicht
unberührt bleiben. Auch müssen zentrale wie dezentrale
Fortbildungsveranstaltungen für bereits in der Schule Lehrende
der veränderten Schulstruktur gerecht werden.
Darüber hinaus sind auch an Weiterbildungsmaßnahmen
für jene Personenkreise zu denken, die von außen in die
Ganztagsschule hineinkommen und mit deren Struktur, ihrer spezifischen
Form sowie der unterrichtlichen und außerunterrichtlichen
Organisation und deren Aktivitäten ursprünglich nicht
vertraut sind.