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nmz-archiv
nmz 2004/06 | Seite 4-5
53. Jahrgang | Juni
Magazin
Italiens Musikleben und sein Presseorgan
„il giornale della musica“ wird zwanzig und gründet
einen Kompositionswettbewerb
„il giornale della musica“, die wichtigste Musikzeitung
Italiens, wird dieses Jahr zwanzig. Wie das „giornale“
diesen Anlass begeht, schildert der stellvertretende Chefredakteur
Daniele Martino im Gespräch mit Andreas Kolb von der neuen
musikzeitung.
neue musikzeitung: Als der Verlag EDT vor 20 Jahren „il
giornale della musica“ gründete: Was war der Impuls?
Sah man eine Marktlücke, war es die Musikliebhaberei des Verlegers
Enzo Peruccio?
Daniele Martino, stellvertretender
Chefredakteur beim „giornale della musica“,
veröffentlichte die Gedichte Minimale (in „Nuovi
poeti italiani 4“, Turin, Einaudi 1995) und den Essay
„Catastrofi sentimentali. Puccini e la sindrome pucciniana“
(„Katastrophen der Gefühle. Puccini und das Puccini-Syndrom“,
Turin, EDT 1993). Er schrieb das Libretto zur Oper Averroè
von Marco Betta (1999), mit dem er zurzeit eine Arie für
Placido Domingo und die Arena di Verona verfasst. In den
achtziger und neunziger Jahren arbeitete er als Theaterkritiker
für die Zeitungen „Manifesto“ und „l’Unità”.
Für die Wochenzeitung „Diario“ ist er als
Literaturkritiker tätig. Foto: Andreas Kolb
Daniele Martino: Das seltsamste ist, dass es „il giornale
della musica“ überhaupt noch gibt! Viele sind der Meinung,
dass die dauerhafte Beständigkeit (zwanzig Jahre!) einer spezialisierten,
kulturellen Zeitung wie der unseren wirklich ein außergewöhnliches
Phänomen ist – in einem Land wie Italien, das im Hinblick
auf das Niveau des Kulturkonsums und insbesondere die Verbreitung
einer musikalischen Grundausbildung sicher nicht zu den führenden
europäischen Staaten gehört. Diese Zeitung, die unser
Herausgeber Enzo Peruccio 1985 sowohl als Informationsdienst als
auch als Ort für kulturelle Hintergrundberichterstattung konzipierte,
ähnelt einer Tageszeitung und ist gleichzeitig anders als diese.
nmz: Wer sind die Leser des Giornale?
Martino: Im Vergleich zum System der Medien kann uns der
Druck der Machtzentren gleichgültig sein (es sind natürlich
kleine Machtzentren – die des Musiklebens –, aber sie
sind präsent und sicher aktiv), denn unser Herausgeber ist
im musikalischen Bereich vollständig unabhängig. „il
giornale della musica“ verbreitet im Durchschnitt 17.000 Exemplare
und hat 2.500 Abonnenten. „il giornale della musica“
finanziert sich überwiegend mit Werbung: Wir haben jeden Monat
Dutzende kleine und mittlere Inserenten wie Kurse und Wettbewerbe
– das wahre „private“ Unternehmertum der klassischen
Musik –, dann Theater, Konzertverbände, Musikverlage.
Diese Fachleute werben in unserer Zeitschrift, weil diese Werbung
wirklich ankommt; der Kreis zwischen Verbrauchern und Lesern schließt
sich vollkommen, was für alle positiv ist.
nmz: Vergleicht man das italienische Musikleben 1985 und
2004 miteinan- der, was ist der Unterschied?
Martino: 1985: Die Opernhäuser stehen am Rande des
Zusammenbruchs, die kleinen Konzertvereine sind dramatisch knapp
mit öffentlichen Finanzmitteln, das Publikum klassischer Musik
wird immer weniger und immer älter… es gibt eine lebhafte
Szene neuer, zeitgenössischer musikalischer Sprachen, und die
Plattenverlage und Konzertveranstalter versuchen, dem Rückgang
des alten klassischen Repertoires mit einer neuen zeitgenössischen
„easy listening“ Musik und Crossover-Projekten entgegenzutreten.
2004: Die Opernhäuser stehen am Rande des Zusammenbruchs, die
kleinen Konzertvereine sind dramatisch knapp mit Finanzmitteln,
das Publikum klassischer Musik wird immer weniger und immer älter…
zeitgenössische Musik wird immer seltener aufgeführt,
die Plattenverlage veröffentlichen immer weniger CDs und behaupten,
Schuld an allem sei das File Sharing im Internet (was nicht stimmt).
nmz: In welcher musikjournalistischen Tradition sieht sich
„il giornale della musica“?
Martino: In Italien hat es immer viele mittelmäßige
Zeitschriften gegeben, die auf klassische Musik „spezialisiert“
sind. „il giornale della musica“ hat stets auf die europäischen
Modelle geschaut, auf „Times Literary Supplement“ und
„Gramophon“, auf „New York Review of Books“,
auf „Le Monde de la Musique“ und auf die „neue
musikzeitung“. Wir haben viele Kollegen in Europa, in Italien
weniger.
nmz: Gibt es Organisationen, Institutionen des Musiklebens
und der Musikerziehung, die „il giornale della musica“
als Organ für ihre Öffentlichkeitsarbeit benutzen?
Martino: Einige Jahre lang haben wir mit der Italienischen
Gesellschaft für Musikerziehung SIEM (den Musiklehrern in der
Schule) zusammengearbeitet, aber für die wenigen, geldknappen
kulturpolitischen und musikalischen Vereine in Italien ist das Internet
heute ein weniger kostenaufwändiges und direkteres Verbreitungsmittel
für ihre Ideen als die Printmedien.
nmz: Anlässlich des 20. Geburtstages gründete
„il giornale della musica“ den „International
Composition Competition il giornale della musica“. Mit welcher
Absicht?
Martino: Um die 200. Ausgabe und das 20. Jahr seines Bestehens
zu feiern, hat „Il giornale della musica“ in Zusammenarbeit
mit dem Orchestra Sinfonica Nazionale della Rai, dem Nationalen
Rundfunk-Sinfonieorchester, einen internationalen Kompositionswettbewerb
ausgeschrieben, der sich an Komponisten aller Länder unter
35 Jahren richtet. Als Vorsitzender der Jury wurde der holländische
Komponist Louis Andriessen eingeladen, der in der Ausschreibung
ausdrücklich die Möglichkeit sehen wollte, fünf Instrumente
zusätzlich zum traditionellen Sinfonieorchester besetzen zu
können, um die kreativen Möglichkeiten der jungen Kandidaten
zu erhöhen. Die internationale Jury besteht aus vier weiteren
bedeutenden Komponisten: Luca Francesconi (Italien), Heiner Goebbels
(Deutschland), Zygmunt Krauze (Polen), Steve Martland (England).
Das Werk, das den Wettbewerb gewinnt, wird am 13. Januar 2005 vom
Orchestra Sinfonica della Rai unter Leitung von Roberto Abbado für
die Reihe „RaiNuovaMusica“ im Auditorium „Giovanni
Agnelli“ im Konzertsaal Lingotto in Turin uraufgeführt,
von RaiRadio3 übertragen und von RaiTrade Edizioni Musicali
veröffentlicht.
Die vollständige Ausschreibung in englischer Sprache kann man
auf der Website von „il giornale della musica“ herunterladen:
www.giornaledellamusica.it
nmz: Fühlt sich „il giornale della musica“
der zeitgenössischen Musik besonders verpflichtet?
Martino: Jede Kunst war einmal zeitgenössisch, und
nur die kritischen Phasen der Geschichte haben ihren Blick ausschließlich
auf die Vergangenheit gerichtet. Aus diesem Grunde haben wir uns
für einen Wettbewerb zeitgenössischer Komposition entschieden,
um unser zwanzigjähriges Bestehen zu feiern und unseren Kämpfergeist
an der Seite der Kreativität zu bezeugen – in dieser
wirklich harten Zeit, in der die Kultur so wenig Unterstützung
wie noch nie hat, in diesen Jahren der linken Regierungen, die als
Vorkämpfer des „freien Marktes“ argumentieren,
und der rechten Regierungen, die als private Geschäftsleute
und Abschaffer der Prinzipien von sozialer Gerechtigkeit und öffentlicher
Kulturförderung auftreten.
nmz: Pop und Rock spielen eine immer größere
Rolle auch im Konzertbetrieb. Reagiert „il giornale della
musica“ darauf konzeptionell?
Martino: Wir haben immer die größte Achtung für
jede Form der Musik gehabt: Seit drei Monaten haben wir nicht mehr
die separaten Seiten für Folk, Jazz, Pop und Tanz, die Themen
mischen sich in unserer Zeitung demokratisch, auch wenn die Popular
Musik, die wir schätzen, sicher nicht die ist, die man auf
MTV sieht. Unser Publikum ist allerdings tendenziell „klassisch“
(und damit konservativ und ein bisschen rassistisch, kulturell gesprochen!).
nmz: Wie weit konnte „il giornale della musica“
Einfluss nehmen auf bestimmte Entwicklungen im öffentlichen
Musikleben?
Martino: Der größte Teil der italienischen Politiker
liest nur die wichtigsten Tageszeitungen, vor allem die Interviews
ihrer politischen Kollegen: Wir können nur die wenigen gebildeten
Italiener beeinflussen, und daher wissen nur äußerst
wenige Politiker, was die wahren Bedürfnisse der Musikwelt
in Italien sind. Insbesondere die Situation der Musik im Schulunterricht
war noch nie so deprimierend wie heute. In Italien „Europäist“
zu sein, bedeutet, noch auf den zivilen Fortschritt und eine anständige
Ver-u u waltung des Staates zu vertrauen.
nmz: Gibt es Reformen und Strukturveränderungen bei
den Konservatorien?
Martino: Nach Genehmigung eines kritikwürdigen Gesetzes
(das die Lobby der Gewerkschaft der Konservatoriumsprofessoren durchgesetzt
hat, die bei einer Gruppe von Abgeordneten von rechts wie von links
Gehör fand) wurden 1990 die Konservatoriumsdiplome in den Rang
eines Hochschulabschlusses erhoben, also einem musikwissenschaftlichen
Studienabschluss gleichgestellt: Dadurch wurde die Situation noch
komplizierter als vorher, und die alten Universitätsangehörigen
betrachten den größten Teil der vom Konservatorium stammenden
Kollegen als inkompetente Emporkömmlinge. Es besteht die Hoffnung,
dass in den nächsten zehn Jahren, wenn endlich die Universität
„für Musikwissenschaftler“ und die Konservatorien
„für Musiker“ in einen Dialog treten, die kulturell-musiktheoretische
Ausbildung auf hohem Niveau mit der Fähigkeit integriert werden
kann, ein Musikinstrument auf hohem Niveau zu spielen.
nmz: Welche Rolle spielt der CIDIM, der von der Regierung
in Rom finanzierte italienische Musikrat?
Martino: Eine verdienstvolle, nahezu einflusslose Rolle.
nmz: Welches Verhältnis nimmt „il giornale“
gegenüber den politischen Richtungen und Parteien ein?
Martino: Unsere rechten Leser sagen, wir, die wir die Zeitung
machen, seien links. Aber wir sind nicht rechts.
nmz: In Deutschland wird oft über eine Quote in Radio
und TV für einheimische Musikproduktionen gesprochen (nach
französischem Vorbild). Wie funktioniert das in Italien?
Martino: In Italien kann man auch 60 Jahre nach dem Zusammenbruch
des Faschismus noch kein „nationalistisches” Thema ansprechen,
denn jede Diskussion über einen Selbstschutz auf nationaler
Ebene wird des Faschismus verdächtigt (der eine interessante
Vorstellung vom öffentlichen Schutz der Kultur hatte…
leider begleitet vom Knüppel für diejenigen, die sich
nicht von ihm schützen lassen wollten).