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nmz-archiv
nmz 2004/06 | Seite 6
53. Jahrgang | Juni
Portrait
Neugier ist ein guter Ausgangspunkt
Markus Stenz und das Melbourne Symphony Orchestra
Zugaben werden fast immer gerne entgegengenommen. Sie sind das
leicht verdauliche Konfekt am Ende eines Konzerts, entweder melodisch
einschmeichelnd oder mitreißend virtuos. Beim Melbourne Symphony
Orchestra heißen sie „Act III“ – und sind
eigentlich keine Zugaben. Denn es handelt sich nicht um kurze, bekannte
Stücke, sondern um veritable Neuheiten, die zudem deutlich
länger dauern und vom ganzen Orchester gespielt werden. Seitdem
Markus Stenz damit begann, gehören Konzerte mit einem dritten
Akt zu den beliebtesten MSO-Veranstaltungen.
Gleich der erste Versuch bei einem Konzert der Master Series im
März letzten Jahres wurde zum durchschlagenden Erfolg. Es begann
damit, dass Olli Mustonen, der Solist von Ravels Klavierkonzert,
keine Zugabe spielte, aber Stenz auf eine Überraschung, ein
Surprise Present, am Ende verwies. So kam es, dass nach Mahlers
vierter Symphonie, dem „offiziellen“ Schlussstück,
nur wenige Zuhörer den Saal verließen. Die meisten waren
neugierig auf das, was der Dirigent ihnen mit einigen Worten beschrieben
hatte, ohne Titel und Komponist zu verraten.
Ein Deutscher im australischen
Melbourne: Markus Stenz. Foto: nmz-Archiv
Nach einer Umbaupause wurde die Bühne dunkel, bis nur noch
wenige Scheinwerfer den Flügel beleuchteten. Auf ihm spielte
Olli Mustonen ein vertrautes Stück: den „Quasi una fantasia“
überschriebenen ersten Satz von Beethovens Mondscheinsonate
op. 27. Ohne Pause folgte darauf ein zweites, allerdings kaum bekanntes
Werk. Die neuen Klänge, die aus verschiedenen Richtungen ertönten,
sich verdichteten und wieder entfernten, packten die Zuhörer.
Durch Projektionen erfuhren sie, dass es sich um György Kurtágs
Beethoven-Hommage „... quasi una fantasia“ op. 27 handelte.
Am Ausgang erhielten sie weitere Informationen über Komponist
und Werk.
In gemeinsamen Gesprächen hatte Stenz das Orchester langfristig
für die Idee des 3. Akts gewinnen können. Er wusste, dass
sie nur als gemeinsames Projekt aller Musiker Aussicht auf Erfolg
haben würde. Nur so konnte auch die notwendige Geheimhaltung
gelingen. Die Überraschung besteht allerdings nicht nur in
der Wiedergabe eines nicht angekündigten Werks, sondern auch
in unerwarteten Bezügen zum Vorangehenden. Zu solchen Querverbindungen
gehörte der Ton E, mit dem das „Himmlische Leben“
der Mahler-Symphonie endete und mit dem dann die Kurtág-Komposition
begann. Das Entwickeln solcher Bezüge bedeutet eine ähnliche
Herausforderung an die Phantasie der Programmmacher wie an die der
Zuhörer. Für die Veranstalter hat „Act III“
den Vorteil, dass auch kurzfristige Ideen noch berücksichtig
werden können. Grenzen gibt es nur hinsichtlich der Länge;
das Konzert darf insgesamt nicht mehr als zwei Stunden dauern, um
die Geduld des Publikums nicht überzustrapazieren.
Schon vor einem Jahr konnte der Rezensent zu Beginn der Saison
2003 die zustimmenden Reaktionen der Zuhörer und Musiker im
Arts Center Melbourne miterleben. Als Stenz ein Jahr später,
im März 2004, wieder eine neue Saison eröffnete, entdeckte
er erneut das magische Wort „Act III“ im Programmheft.
Der Abend begann mit Maurice Ravels „Le Tombeau de Couperin“,
gefolgt von Gershwins „Rhapsody in Blue“. Nach der Pause
sollte das Orchester ein Werk spielen, das wegen seiner grellen
Dissonanzen andernorts nicht selten zum Exodus des Publikums führt.
Nicht so in Melbourne. Nach sechs Jahren als Chefdirigent besitzt
Markus Stenz hier bei seinen Hörern einen solchen Vertrauensbonus,
dass er es wagen konnte, „Amériques“ von Edgard
Varèse ins Abonnementskonzert zu integrieren. Das riskante
Programm führte sogar zu verstärktem Andrang, so dass
alle drei Abende ausverkauft waren. Dabei musste das Orchester an
diesem Wochenende mit dem nur wenige Kilometer entfernten Grand
Prix konkurrieren. Aber Markus Stenz konnte sich gegen Michael Schumacher
überraschend gut behaupten.
Als Musikdirektor von Henzes Montepulciano-Festival hat er die
Kommunikation mit dem Publikum gelernt und danach weiter ausgebaut.
Dass Konzerte nicht nur kulinarische Genüsse, sondern auch
Lernprozesse bedeuten, ist ihm inzwischen selbstverständlich.
Natürlich muss Ungewohntes eingeführt und vermittelt werden.
In Melbourne gab es dazu einen Kurs „Wer fürchtet sich
vor dem 20. Jahrhundert?“, Einführungsveranstaltungen
vor den Konzerten oder die Avantgarde-Reihe „Metropolis“
im intimen Malthouse. Unmittelbar vor der Aufführung von „Amériques“
griff der Dirigent noch einmal zum Mikrophon und verwies auf die
erstmals in Australien gespielte Originalbesetzung mit 129 Musikern,
darunter zehn Trompeter und fünfzehn Schlagzeuger. Es folgte
eine bestens vorbereitete Wiedergabe mit präzisen Ostinati
und genau koordinierten Raumwirkungen. Man war neugierig, was nach
so gewaltigen Klangwogen als 3. Akt folgen würde. Gemeinsam
mit Jean-Yves Thibaudet, dem Solisten der „Rhapsody in Blue“,
hatte Stenz wieder etwas Besonderes ausgeheckt: ein Werk für
Klavier und Orchester, das Gershwins Synthese von Popularmusik und
Symphonik weiterführte und zugleich den Titel der Ravel-Komposition
aufgriff. Michael Daughertys Klavierkonzert „Le Tombeau de
Liberace“ (1996) ist eine Hommage an den 1993 verstorbenen
Pianisten Wladziu Valentino Liberace, der in seinen spektakulären
Las Vegas-Shows ebenso Broadway-Hits wie klassische Werke spielte.
Banales und Bedeutendes präsentierte er mit gleichem Pomp als
etwas Künstliches, das er so dem amerikanischen Massengeschmack
anpasste. Während der 1954 geborene Komponist mit seinem für
London Sinfonietta entstandenen Werk eine wirkliche Hommage im Sinne
hatte, gingen Stenz und Thibaudet mit Ironie an die Sache heran.
In Anspielung auf „Candelabra Rhumba“, den letzten Satz,
schwebten zwei riesige Kronleuchter vom Schnürboden herunter
und tauchten die jazzig schillernde Einleitung („Rhinestone
Kickstep“) in goldenes Licht. Im langsamen Satz, einer Huldigung
auf den Swimming Pool Liberaces, wurde die Beleuchtung noch intimer.
Die ganze Komposition, die vom Pianisten höchste Virtuosität
erforderte, basierte auf Klischees und leeren Formeln. Als Triumph
der Verpackung über den Inhalt ist dieser „Tombeau“
ein Kommentar zur Kulturindustrie. Siebzig Jahre nach den visionären
und enthusiastischen Amerika-Bildern von Gershwin und Varèse
entstand damit ein nicht weniger farbiges, jedoch realistischeres
Porträt der USA.
Unter der Ägide von Stenz haben die bis dahin konventionellen
Programme des MSO erheblich an Attraktivität gewonnen. Zeitgenössische
Musik besitzt dabei einen hohen Stellenwert. Als Glücksfall
erwies sich die Zusammenarbeit mit dem composer-in-residence Brett
Dean. Der ehemalige Bratscher der Berliner Philharmoniker, der seit
dem Jahre 2000 wieder in seiner australischen Heimat lebt und dort
inzwischen zu den meistgespielten Komponisten gehört, hat zwei
größere Stücke für das Orchester geschrieben.
Dean betreute außerdem ein Projekt mit vier Uraufführungen
von jungen Komponisten und spielte Kammermusik mit Mitgliedern des
Orchesters. Er konnte so zu einer offeneren, neugierigeren Haltung
gegenüber neuer Musik beitragen.
Der Geschäftsführer des Orchesters, Trevor Green, verglich
die Tätigkeit von Stenz in Melbourne mit der Simon Rattles
in Birmingham. Sein erstes Programm als Chefdirigent hatte Stenz
1998 mit einer auskomponierten Frage begonnen, mit „The Unanswered
Question“ von Charles Ives, gefolgt von Mahlers Auferstehungssymphonie.
Wenn er im Dezember sein letztes Konzert als Chefdirigent leitet,
steht wiederum Mahlers Zweite auf dem Programm, nun aber eingeleitet
durch die Uraufführung der Komposition „Moments of Bliss“,
die Dean für das Orchester schrieb. Nicht wenige Glücksmomente
hatte es in den zurückliegenden Jahren für Stenz und das
MSO gegeben. Nicht zuletzt die Mahler-Aufführungen zum Olympic
Arts Festival und zum Federation Jubiläum sowie Auslands-Tourneen
nach St. Petersburg, Mitteleuropa (darunter auch Köln) und
China haben dem Ansehen des Orchesters sehr geholfen. Einige der
Höhepunkte greift Stenz in seiner letzten Konzertsaison auf.
2004 ist für ihn ein „Ernte-Jahr“. Aber auch das
Publikum der Kölner Gürzenich-Konzerte darf von den in
Melbourne gesammelten Erfahrungen profitieren. Die Programme des
jetzt von Stenz geleiteten Gürzenich-Orchesters enthalten inzwischen
ebenfalls „dritte Akte“ und wurden soeben mit dem Musikverleger-Preis
ausgezeichnet. Zu hoffen ist, daß sich die Kölner als
ebenso spontan und entdeckungsfreudig erweisen wie ihre Antipoden
in Melbourne.