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nmz-archiv
nmz 2004/06 | Seite 42
53. Jahrgang | Juni
Bücher
Antisemitismus als Mittel zum kreativen Prozess
Der Künstler Richard Wagner: Neue Forschungsergebnisse
Ulrich Drüner: Schöpfer und Zerstörer. Richard
Wagner als Künstler, Böhlau, Köln/Weimar 2003,
361 S., Abb., € 34,90, ISBN 3-412-17702-4
Richard Wagners Antisemitismus, der aus den Schriften und den Tagebüchern
Cosima Wagners deutlich wird, hat der Philosoph und Psychoanalytiker
Slavoj Zizek (Der zweite Tod der Oper. Berlin 2003) unlängst
öffentlich bestritten, und selbst Daniel Barenboim verteidigt
in einem unlängst erschienenen Buch nicht nur Wagners Angriffe
gegen Mendelssohn im Pamphlet „Das Judentum in der Musik“,
sondern widerspricht auch dem Vorhandensein antisemitischer Tendenzen
in dessen Musikdramen (Daniel Barenboim/Edward W. Said: Parallelen
und Paradoxien. Über Musik und Gesellschaft. Berlin 2004).
Zu einem gegenteiligen Ergebnis gelangt Ulrich Drüner in seiner
Abhandlung „Schöpfer und Zerstörer“. Hier
wird Wagners Antisemitismus zum Agens und zur Sinngebung seiner
Kunst überhaupt und zum maßgeblichen Faktor von Wagners
Schöpfertum. Durch „seine immer aggressiveren Motivationen,
Kunst als Sprachrohr zu gebrauchen“ wurde Wagner zum Zerstörer,
„durch die künstlerische Syntax“, mit welcher er
seine Kunst verwirklichte, hinge-gen zum Schöpfer. Den Vorgang
des Schöpferischen untersucht Drüner kreativitätspsychologisch.
Demnach war die „negative Inspiration“ ein von Wagner
gesuchter, in der „unmöglichen Liebe“ oder –
besonders häufig – durch antisemitische Attacken gefundener
Weg zur Kreativität. Durch den „sadistisch-sexuelle(n)
Kick des Judenhasses“ hätten sich „Der Ring des
Nibelungen“ und „Das Judentum in der Musik“ gegenseitig
bedingt. Aber nicht nur die in der Rezeption häufig als Judenkarikaturen
gedeuteten Rollen Beckmesser, Mime, Alberich, Hagen und Kundry,
sondern auch Venus und Ortrud werden bei Drüner als Bilder
des Jüdischen gedeutet, die Heldengestalten Tannhäuser,
Tristan, Wotan und Amfortas hingegen als „Verletzte“
im Kampf um die „Moderne“.
Wagners Absicht war es, die „Moderne“ zu zerstören
und an deren Stelle das „Neue“ zu erschaffen. Der Begriff
der „Moderne“ ist in der Philosophie seit Hegel bereits
verknüpft mit dem Feindbild des Jüdischen. Seinen „Albträume(n)
über die Moderne“ habe Wagner seine „kulturelle
Regeneration“ entgegengesetzt. Den Mythos habe Wagner „als
Schutzschild für verdeckte Aussagen“ verwendet um sein
Publikum durch einen offenen Antisemitismus nicht „kopfscheu“
zu machen. Ohne selbst christlich zu sein, habe er die christliche
Antinomie von Geist und Körper verinnerlicht, christliche Bilder
und Mythen als ästhetischen Eros und in der jahrhundertealten
Tradition antijüdischer Konnotation verwendet. Bereits bei
Johann Gottlieb Fichte traf Wagner auf die Forderung, den Juden
„den Kopf abzuschneiden oder sie ins ‚gelobte Land’
zu schicken“.
Tristans geschlechtliche Doppelbindung zu Melot und zu Isolde
deutet Drüner als „Doppelkonstrukt von heterosexueller
und homoerotischer Bindung“. Mit seinen Bildern der zweierlei
Liebesarten setze Wagner „die gegen die Moderne gerichtete
Kulturkritik“. Die Rolle des Melot verkörpere den „scharfen
(ebenso jüdischen) Rationalismus“.
Aufschlussreich sind Drüners Forschungsergebnisse über
Wagners Musik. Das Tagesmotiv aus dem „Tristan“ das
auch im „Siegfried“ und in der „Götterdämmerung“
Verwendung findet, deutet er als „Thema destruktiver Rationalität“,
Das Todesmotiv stehe für den „Ausbruch aus den Banden
von Gesetz und Realität“, nicht für den realen Tod
und bedeute daher den „Verlust des rationalen Denkens“.
Drüner weist nach, dass Beckmessers Ständchen bereits
1870 als Persiflage auf ein jüdisches Lied rezipiert wurde,
ohne Wagners Widerspruch auszulösen. Er liefert musikalisch
den Nachweis mittels eines jiddischen Strophenliedes, insbesondere
anhand der von Wagner übernommenen Terz- und Quintschleifer.
In Siegfrieds Partie entdeckt der Autor eine „zweimalige Verwendung
des ominösen Triolenmotiv aus Meyerbeers ‚Krönungsmarsch‘“
zur Erkenntnis, dass „viel üblere Schächer unerschlagen
noch leben“, womit Siegfried in seinem Ziehvater Mime „auch
den Juden entdeckt“. Gleichwohl verweist Drüner auf die
„mehrschalige Struktur“ der Bühnenwerke Wagners
und folgert, trotz antisemitisch motivierter Initialzündung
reiche das fertige Kunstwerk „weit darüber hinaus“.
Leider finden sich in Drüners Abhandlung neben beachtlichen
Erkenntnissen auch eine Reihe von Irrtümern. Insbesondere ist
die Behauptung, der gebräuchliche Strich im dritten Aufzug
des „Lohengrin“ mit der Weissagung des Helden gehe bereits
auf Richard Wagner selbst zurück, unter Berufung auf einen
Klavierauszug Felix Mottls aus dem Jahre 1858. Mottl wurde aber
erst 1856 geboren und der zu jener Zeit bei Breitkopf verlegte Klavierauszug
von Theodor Uhlig verzeichnet keinen Strich. Und im „Meistersinger“-Kapitel
treibt der Autor Beckmessers Verhunzung des Preisliedes unbeabsichtigt
auf die Spitze, indem er diesem die Version der Festwiese, nicht
die kommensurable der Schusterstube gegenüberstellt.
Vieles ist jedoch gut recherchiert, klug zusammengetragen und
bisweilen auch köstlich zu lesen („Fricka ist unmusikalisch“).
Die verknappte Aussage der „Regenerationsschriften“
Richard Wagners gelingt diesem Autor trefflicher als Martin Gregor-Dellin
oder Joachim Köhler. Drüners Entschlüsselung jüdisch-antijüdischer
Bilder in Wagners Kunst ist durchaus erhellend.