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nmz-archiv
nmz 2004/06 | Seite 39
53. Jahrgang | Juni
Rezensionen
Den Silberfaden der Fantasie spinnen
Der österreichische Pianist Franz Vorraber spielt das gesamte
Klavierwerk von Robert Schumann bei Thorofon ein
Schumann hat es immer schwer gehabt. Die legendenumrankte Krankengeschichte
trübte bis heute die Wahrnehmung seiner Musik. Sie blieb genauso
gespalten wie die dem Komponisten bescheinigte schizoide Persönlichkeit:
wird dem Frühwerk uneingeschränkt „geniale Inspiration“
zugestanden, so konstatiert man spätestens ab 1849 stirnrunzelnd
„schwindende Schöpferkraft“ und „Formschwäche“.
Nebenwerke wie die Albumblätter op. 99 oder die Jugendsonaten
op. 118 werden in manchen Konzertführern geradezu abgekanzelt.
Gesamteinspielungen, denen sich namhafte Interpreten bei Mozart,
Beethoven oder Chopin immer wieder unterziehen zu müssen glauben,
kommen da natürlich nicht in Frage. So wundert es kaum, dass
die letzte Aufnahme des vollständigen Klavierwerks von Schumann
durch Jörg Demus bis in die Siebziger Jahre zurückreicht;
insgesamt gibt es gerade einmal drei. Das Wagnis einer neuen Gesamteinspielung
unternimmt jetzt der Pianist Franz Vorraber beim Label Thorofon,
ein lang gehegtes Lieblingsprojekt, das sich ausschließlich
der Liebe zu dieser Musik und dem Drang verdankt, sie immer tiefer
zu erforschen. Die auf 13 CDs angelegte Edition wird in diesen Tagen
abgeschlossen. Sie ist beileibe nicht nur enzyklopädisch bedeutsam,
sondern von enormem künstlerischem Ertrag: Sie rehabilitiert
den „unbekannten Schumann„, lässt im großen
Zusammenhang auch die zu Tode gespielten „Hauptwerke„
in neuem Licht erscheinen und macht überdies mit einem jungen,
relativ unbekannten Interpreten einmal mehr die Fragwürdigkeit
des Starrummels im Klassik-business deutlich.
Denn der 31-Jährige, aus Graz stammende und in Frankfurt lebende
Vorraber spielt durchweg fesselnd und überzeugend, zieht von
Ton zu Ton tiefer in die Schumann-Sucht hinein. Anders als die großen
Schumann-Spieler der Vergangenheit, Cortot, Arrau oder Horowitz
– und neuerdings vielleicht Arcardi Volodos – tut er
sich dabei weder durch spektakuläre Virtuosität hervor,
noch stellt er das eigene persönliche Profil in den Mittelpunkt.
Ein Interpret im romantischen Sinne, der in erster Linie sich selbst
ausdrückt, ist er damit nicht, eher ein unbestechlicher Dolmetscher
des Werkes, mit Leidenschaft und Akribie ganz dem Notentext ergeben
und diesen doch in eigenen, selbst erlebten Ausdruck übersetzend.
Den Schumann’schen Klavierkosmos präsentiert er als zyklische
Einheit voller subtiler Bezüge und Differenzierungen, so dass
von „stärkeren“ und „schwächeren“
Werken keine Rede mehr sein kann. In der Gesamtheit hat jedes seine
Bedeutung und seine Eigenart. Eine kontrastreiche Anordnung nach
Themenkreisen unterstützt dieses Hören in größeren
Zusammenhängen, macht Lust auf immer neue Entdeckungen. So
stehen leicht hingeworfen wirkende Lyrismen à la „Bunte
Blätter“ den durchstrukturierten großen Sonaten
gegenüber, „Humoristisches“ – im Sinne des
Jean Paul’schen Humorbegriffs abrupter Stimmungswechsel gehören
dazu „Carnaval“ oder „Ein Faschingsschwank aus
Wien“ – wird mit dem Schaffen „für die Jugend“
kombiniert, die literarisch angeregten Zyklen („Kreisleriana“)
mit den Etüden. Auch Früh- und Spätwerke sind direkt
konfrontiert und enthüllen dabei nicht so starke Unterschiede,
wie häufig behauptet, vielleicht graduell an Virtuosität
und Komplexität, jedoch nicht qualitativ. In allen Schaffensphasen
lassen sich ungehobene Schätze finden.
Vieles ist einfach zu intim und klanglich subtil, wie die „Gesänge
der Frühe“ op. 133, um im großen Konzertsaal bestehen
zu können. Manches wurde von Clara nicht zur Edition zugelassen,
wie die „Geistervariationen“ (o. O.), das letzte, „von
Geisterstimmen diktierte“ Werk vor dem Sprung in den Rhein,
das immer nur als Krankheitszeichen bewertet wurde. Hört man
unmittelbar nach der g-moll-Sonate op. 22 das ursprüngliche,
auf Claras Wunsch zurückgezogene Finale, dann ist zu ahnen,
welch kühne, harmonisch und rhythmisch hochkomplexe Phantasie
sich unter dem Druck von Hörverständlichkeit und Spielbarkeit,
möglicherweise auch einem gewissen Einfluss des Leipziger Akademismus,
vielleicht gar nicht voll entfalten konnte. Auch die Paganini-Etüden
op. 10, auf der Übertragung einiger Capricen des Genueser „Teufelsgeigers“
für Violine solo beruhend, stehen etwa der berühmten Toccata
op. 7 in nichts nach.
Sie sind filigraner in der Figuration, enthalten jedoch nicht weniger
fürchterliche Sprünge, exzessive Trillerketten, die in
triolische Bewegung zerbröseln, dazu sprunghaft wechselnde
rhythmische Schichtungen. Entgegen der vergleichsweise eindeutigen
und überschaubaren Faktur der Toccata kann sich das Ohr da
nicht so schnell festhaken, rutscht richtiggehend aus. Und der Pianist
kommt dem keineswegs entgegen, liefert keine gefällige Virtuosität,
sondern befördert noch durch skurrile Verzögerungen und
schroffe Akzente den Eindruck von Zerfall. Zeigt sich hier eindrucksvoll
eine Form von „Dekomposition“ als Folge unerschöpflicher
Variierungskunst, so treibt diese bisweilen auch absonderliche Blüten.
Als 23-Jähriger schrieb Schumann sieben nie veröffentlichte
Etüden, die sich irgendwann als Variationen über den „Trauermarsch“
aus Beethovens 7. Sinfonie entpuppen. Das Thema wird nicht vorgestellt,
zeigt sich (ähnlich wie Beethovens Eroica-Variationen) erst
als nacktes Bassgerüst, später funken noch Floskeln aus
dem 1. Satz und die leeren Quinten aus der Neunten dazwischen. Auch
dies, auf seine Weise, eine Perle der Edition.
Dazu gehören zweifellos die drei ebenfalls sehr selten zu
hörenden Sonaten fis-moll op. 11, f-moll op. 14 und g-moll
op. 22. Natürlich hatten sie stets – wie auch diejenigen
Schuberts – gegen das Vorurteil anzukämpfen, keine „richtigen“
Sonaten im klassischen Sinne zu sein, eine heute kaum mehr verständliche
Restriktion, wenn man etwa an die freie Formgestaltung des ständig
zum Prüfstein herbeizitierten Beethoven im Spätwerk denkt.
Daraus macht Vorraber eine Tugend. Vor allem op. 14 und op. 22 entwickelt
er aus einem quasi barocken, toccatenhaften Gestus heraus, verzichtet
auf pedalträchtigen romantischen Klangrausch und belebt die
„Klangrede“ mit geradezu dramaturgisch gesetzten Zäsuren
und einer den „Sprachfluss“ klug dirigierenden Agogik.
Bach gehörte zu Schumanns Vorbildern, nicht nur was die Polyphonie
betrifft, wie sich hier zeigt. An Berlioz‘ „Symphonie
fantastique“ rühmte Schumann die Freiheit vom Gesetz
der Taktschwere, mit der sie an griechische Chöre erinnere.
Davon ausgehend ist für Vorrabers Interpretation die Schumannsche
Phrasierung entscheidend, die riesige Bögen bauen kann, die
wiederum in Sequenzen einer Art „Sprachmelodie“ unterteilt
werden, unabhängig vom Metrum, das trotzdem vorhanden und spürbar
ist.
Jedes Werk empfindet der Pianist als einzigartig, vor allem in
der Form, die nicht aus einem übergeordneten Schema, sondern
stets aus einem tragenden Einfall, einem Motivkern individuell entwickelt
sei.
Und so bemüht er sich auch jedes Mal um einen spezifischen
Interpretationsansatz. Der kann mal mehr strukturell, mal mehr klanglich
betont sein. Vor allem die bekannten Werke wie die „Fantasie“
op. 17 oder der „Carnaval“ op. 9 erklingen eher sperrig,
aufgebrochen in eine Fülle erhellender Details. Die „klassizistischeren“
Jugendsonaten op. 118, die um 1853 für die drei ältesten
Töchter entstanden, erhalten einen kecken, neugierig vorwärtspreschenden
Drive, der gleichzeitig die Spannung dieser harmloseren Werke aufrecht
erhält. Ein Stückchen wie „Verrufene Stelle“
aus den „Waldszenen“ op. 82 zeigt ebenso seine Herkunft
von der barocken französischen Ouvertüre, wie es harmonisch
und atmosphärisch zu Arnold Schönberg herüberdriftet.
In den „Fughetten“ op. 126 geht die korrekte Stimmführung
in romantischen Klang und Ausdruck über, wo – wie Schumann
bemerkte - „um die Kette der Regel der Silberfaden der Phantasie
sich schlingt“. Selbst die CD Nr. 8, die nur „Nebenwerke“
wie die Romanzen op. 28, das nachgelassene „Haschemann“
und „Gukkuk im Versteck“ sowie den ersten Teil des „Albums
für die Jugend“ enthält, bezaubert durch die liebevolle
Ausgestaltung gerade der kleinen Stücke, die so mit detailgenauer
Zeichnung jeweils ihre eigene Poesie entwickeln können.
In der Gesamtschau wird deutlich, wie häufig Schumann sich
selbst zitiert, damit einen zyklischen Zusammenhang stiftet, aber
auch, wie zeichenhaft, fast vokabelähnlich er einzelne Elemente
einsetzt. Die aufspringende Sexte des Fantasiestücks „Warum“,
die sich ebenso in den Kinderszenen „Von fremden Ländern
und Menschen“ und „Bittendes Kind“ findet, mag
dafür ebenso stehen wie der Quartruf aus der fis-moll-Sonate,
der auch in den „Geistervariationen“ auftaucht und seinerseits
einem „Hexentanz“ der jungen Clara Wieck entstammt.
Der Bezug auf Clara durchzieht das ganze Klavier-Œuvre nicht
nur dergestalt, dass es Niederschlag der jeweiligen emotionalen
Verfassung des Komponisten ist, der manches Werk als „nur
einen einzigen Herzensschrei nach Dir“ bezeichnete. Eine absteigende
punktiert endende Quartlinie aus einem Andantino von Clara bildet
die motivische Keimzelle der g-moll und fis-moll Sonate, der Fantasie,
des Klavierkonzerts, sie ist die „Stimme aus der Ferne“
in der fis-moll-Novelette und im weiterführenden Doppelschlag
Herzstück des Rezitativs in „Der Dichter spricht“.
„Musik ist die Sprache der Seele“, zitiert Franz Vorraber
Schumann, „je mehr einzelne Bilder im ganzen die Musik vor
dem Hörer ausbreitet, desto ewiger wird sie sein, neu für
alle Zeiten.“ Um diese Seelensprache zu verstehen, studierte
er auch Schumanns Kammermusik und Sinfonik, Tagebücher, Aufsätze
und Briefe, las seine Lieblingsschrifsteller Jean Paul und E.T.A.
Hoffmann.
Es ist ihm gelungen, sie auch auf dem „toten Medium“
CD lebendig zu machen und Schumann, diesen fantastischen Konstrukteur
oder konstruktiven Fantastiker, einem verstaubten, verunglimpfenden
Bild der Vergangenheit zu entreißen.