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nmz-archiv
nmz 2004/06 | Seite 29
53. Jahrgang | Juni
ver.die
Fachgruppe Musik
Das Konzert, letzte Reihe, der Thrill
Weg vom Ritual – Skizze zu einer neuen Konzertpädagogik
· Von Wolfgang Rüdiger
Betrachtet man die zentralen Faktoren der Kulturform „Konzert“,
so kommen hier drei Größen zusammen: die Musik beziehungsweise
das Programm – die Musiker sowie Interpreten – das Publikum
und verschiedene Hörerschichten – in einer bestimmten
Situation, getragen von einem kulturellen, ökonomischen und
organisatorischen Rahmen, zu dem ein reges Vorher und Nachher gehören.
Alle Faktoren haben sich seit Entstehung des Konzerts im 18. Jahrhundert
unendlich ausdifferenziert und befinden sich in ständiger historisch-gesellschaftlicher
Veränderung. Bei allem Wandel jedoch, den die junge, gut zweihundertjährige
Geschichte des Konzerts hervorgebracht hat, lässt sich beobachten,
dass gewisse Rituale und Regeln sich über einen langen Zeitraum
erhalten haben – Rituale, die den Bedürfnissen moderner
Publikumsschichten nicht mehr gerecht werden und das Konzert von
innen aushöhlen und allmählich sterben lassen, so scheint
es.
Es sei denn, die Beteiligten, allen voran die Künstler, erwerben
eine höhere Flexibilität der Vermittlung, entwickeln eine
schärfere Reflexion der Bedingungen und Möglichkeiten
des Konzerts im Medienzeitalter und positionieren sich neu in ihrem
gesellschaftlichen Engagement und öffentlichen Auftrag.
War der Konzertbesuch im späten 18. Jahrhundert ein existenzielles
und soziales Bedürfnis der mittelständischen Intelligenz,
so ist die Geschichte des Konzerts im bildungsbürgerlichen
19. und barbarischen 20. Jahrhundert von einer rituellen Erstarrung
und Elitarisierung geprägt. Das triadische Arrangement von
Musik, Musiker und Publikum scheint in seiner heutigen Form nicht
mehr zeitgemäß. Sein Wesen beruht auf der strikten Trennung
von Ausführenden und Auditorium, deren frontale Positionierung
so etwas wie kollektive Kommunikation unmöglich macht. Die
Bewegung zwischen beiden ist eine lediglich ideal-imaginäre,
von Publikumsseite aus wenig aktive.
Idee und Aufgabe der Konzertpädagogik ist es nun, die althergebrachte
Form des klassischen Konzerts aufzubrechen und das Ritual in Bewegung
zu bringen. Konzertpädagogik oder der noch umfassendere Begriff
Musikvermittlung kann als Antwort auf die Krise des Konzerts, auf
musikalische Erfahrungsverluste, Interesselosigkeit und Publikumsschwund
betrachtet werden.
Rückläufige Besucherzahlen, Veränderungen der Rezeptionsgewohnheiten,
mediale Überflutung, neue Hörweisen und Verstehenswünsche
des Publikums erfordern einen neuen Blick auf Programmgestaltung,
Musikdarbietung, Werkwiedergabe und Wirkungskalkül. Und sie
erfordern eine neue Ausbildungskultur an Musikhochschulen, insbesondere
für Musiklehrerinnen und Orchestermusiker. Ein neuer Musikertyp,
eine neue Künstlerpersönlichkeit in der Personalunion
von „performer“ und „educator“ ist gefordert,
die einerseits die Gründe des Klassik- und Konzertsterbens
erkennt und benennt: die mangelnde musikalische Bildung.
Publikum an der Kehle packen
Dazu aber gilt es, einige Grundfragen zu stellen: 1. Was für
eine Musik ist das, die ich im Konzert spiele und zu einem sinnvollen
Programm zusammenbinde, und welche Sinnangebote und Beglückungen,
Fragen und Erfüllungen sind in ihr enthalten? 2. Wer bin ich
als Musiker (wer sind wir als Ensemble, als Orchester), und wie
kann ich meine Musik dem Publikum nahe bringen, es bewegen, verändern,
zu neuem Denken führen und zu Tränen rühren? 3. Wer
ist unser Publikum oder wer kann unser Publikum unter neuen Bedingungen
sein, in welcher Situation stehen wir als Künstler und Pädagogen
in der Gesellschaft? Auf diese Fragen antwortet seit einigen Jahren
ein neuer Studien- und Berufszweig, der in angelsächsischen
Ländern schon länger verbreitet ist und dort „music
education work“ heißt, ins Deutsche unscharf übersetzt
mit Musikvermittlung oder Konzertpädagogik. Ziel ist es unter
anderem, die klassische Distanz zwischen Spielern und Publikum zu
verringern und das Publikum körperlich, emotional und intellektuell
anzusprechen und aktiv in das Geschehen einzubeziehen: durch Moderation,
Einbezug anderer Kunstsparten, Rezitationen, Aktivierungen des Publikums,
mediale Aufbereitungen, geschickte Programmdramaturgien, Diskussionen
und alle weiteren Formen, die Leben ins Konzert und das Konzert
ins gesellschaftliche Leben bringen.
An manchen Hochschulen ist inzwischen das Fach Musikvermittlung/Konzertpädagogik
in die musikpädagogischen Studiengänge integriert oder
als eigenständiger Weiterbildungsstudiengang aufgebaut worden,
wie zum Beispiel an der Musikhochschule Detmold, wo es ein ausgefeiltes
Curriculum zur Musikvermittlung gibt. Praxisorientierte Lerninhalte
sind auch die Organisation und Moderation von Familien- und Kinderkonzerten,
die Konzeption von Werkstattkonzerten,themenorientierten Programmen,
Workshops, Schülerkonzerten, die Dramaturgie einer Musikveranstaltung,
didaktische Analyse von Musik, Methoden der Musikvermittlung, Umsetzung
von Musik in Bewegung, Bild und Sprache, Moderationstraining, Bühnenpräsenz,
Atem- und Sprechtechnik, Interviewmethoden, Ensemblepraxis sowie
soziologische Grundlagen der Musikvermittlung.
Ergänzt werden kann dieser Fächerkanon durch einen unorthodoxen
Blick auf andere Kunstsparten, wobei sich hier ganz besonders die
prägende Kunstform des 20. Jahrhunderts: der Film und seine
Ästhetik anbietet. Denken wir nur an Billy Wilders Grundregel:
„Langweile dich und andere nicht!“ oder an seine Zehn
Gebote des Filmemachens, dessen zweites lautet: „Pack das
Publikum an der Kehle und lass es nie wieder los.“ Oder vergegenwärtigen
wir uns die Filmästhetik des großen jüdischen Regisseurs
Claude Lanzmann, der da nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit
dem Bauch filmt und dessen Produktionen „complètement
physique“, voller Körper und Sinnlichkeit sind.
Movie thrill – Konzert thrill
Und wenn Edgar Reitz in seinen Visionen zur Zukunft des Kinos
von einem „bacchantischen Element“ träumt, bei
dem „alles ... in Bewegung geraten (kann): die Leinwand, die
Sitze, die Wände, die Projektoren ..., das Publikum“,
und die persönliche Begegnung und Beteiligung aller im Zentrum
steht, so ist dies ebenso konzertpädagogische Zukunftsmusik
wie Evokation von Vergangenheit. Und nicht zuletzt der umstrittene
Quentin Tarantino, der in einem SPIEGEL-Interview vom „movie
thrill“ spricht, diesem großen umwerfenden Kinoerlebnis,
bei dem die Zuhörer bewegt werden und nicht nur in ihrem Sessel
liegen.
Davon kann sich das Konzert eine Scheibe abschneiden, auch wenn
es bei sich und seinem Medium, der Musik und dem Musikhören,
bleiben und nicht sich „fremden“ Medien zu sehr anbiedern
sollte. Man muss nicht immer moderieren und alles medial aufbereiten.
Dennoch lässt sich vor diesem Hintergrund das Postulat eines
„concert thrill“ aufstellen.
So sollte das gute alte Konzert wieder neu als Erlebnis verstanden
werden in einer Gesellschaft. Die Rede ist hier nicht von einer
oberflächlichen Eventkultur, sondern von einem wahren E-venire,
einem Aus-sich-Herausgehen im Konzert, einem Verlassen des Alltags
und Sprengen der Grenzen des Konventionellen durch eine umfassende
Ansprache an einem Ort musikalischer Darbietung und kultureller
Begegnung.