[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2004/07 | Seite 1
53. Jahrgang | Juli/Aug.
Leitartikel
Töteralismus
Hat das türkische Saz-Ensemble aus Berlin-Kreuzberg mit dem
Fischbachauer Drei-Gsang menschlich betrachtet mehr gemein als die
Bundesregierung mit dem Bayerischen Kabinett? Erstere treffen sich
gelegentlich – zum Beispiel beim Weltmusikfest in Rudolstadt.
Man hört sich zu, staunt vielleicht, lernt (sich kennen). Und
pflegt weiter die eigene gewachsene kulturelle Identität. Etwas
anders unsere Volksvertreter: Man trifft sich dauernd, wirft sich
die wüstesten Beleidigungen an den Kopf. Und pflegt weiter
die eigene gewachsene politische Identität. Dass dies zu Reibungsverlusten
führt, die möglicherweise sogar comedygestählte Wähler
nicht mehr hinnehmen mögen, liegt auf der Hand. Also gründet
man, um die Kröte zu verpacken, eine spesenaufwändige
„Gemeinsame Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung
der bundesstaatlichen Ordnung“ – kurz und zweckorientiert
„Föderalismus-Kommission“ genannt.
Das Ziel ist klar: Alle Kulturkompetenz soll wieder bei den Ländern
landen. Nur ein paar „Leuchttürme“ – zum
Beispiel „Elite-Unis“ und die üblichen Berliner
Kulturmonumente erhalten zusammen mit den gängigen Markenartikeln
bundesrepublikanischen Image-Exports noch ein bisschen Bundes-Dünger
aus dem BKM oder dem Außenministerium.
Wissenschaft, Schule, außerschulische Bildungsmaßnahmen
werden im wesentlichen von den Ländern bedient und gesteuert
– Hildegard Bulmahn und Renate Schmidt schnallen ihre Gürtel
engstmöglich. Auf der Strecke bleiben, wie es aussieht –
sehr effektive bundesweit operierende Organisationen. Ein Requiem
für den „Arbeitskreis Musik in der Jugend“, den
„Internationalen Arbeitskreis Musik“ oder die „Jeunesses
musicales“?
Um Kulturkompetenz wird gefeilscht. Also beschäftigt sich
die Föderalismus-Kommission unter kostenschonender Vernachlässigung
aller Inhalte mit dem heutzutage gesamtgesellschaftlich betrachtet
einzig Wesentlichen: der Verteilung von Cash. Das wird sehr professionell
verhandelt. Eingesetzt werden alle marktwirtschaftlich erprobten
Raffinessen. Von geschickter Verzögerungstaktik über das
souverän-föderal gespielte Gekränkt-Sein bis hin
zur soliden Erpressung. Man verhackstückt Kultur und Bildung
auf der Stilebene, mit dem Waffen-Arsenal aktueller Tagespolitik.
Dagegen wirkt der gemeinsame Fischbachau-Kreuzberger Saz-Dreigesang
ohne vorhergegangene Probe wie Beethovens Zehnte mit den Münchnern
unter Celi.
In der aktuellen Ausgabe von „Politik und Kultur“
(www.puk-online.net)
fordert Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber vollmundig
aber dürr in der Headline „höchsten Stellenwert
für die Kunst“ ein – und spricht 8.000 weitere
Zeichen lang über Kostenverteilung und politische Machtverhältnisse.
Es ist, als dirigiere Bundeskanzler Schröder künftig hauptamtlich
die Berliner Philharmoniker mit einem Phaeton-Scheibenwischer statt
Stab. Hat der bundesrepublikanische Bildungsnotstand vielleicht
doch schon vor gut vierzig Jahren begonnen, als Stoiber und Schröder
noch die Schulbank drückten?