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nmz-archiv
nmz 2004/07 | Seite 3
53. Jahrgang | Juli/Aug.
Portrait
Zügelloser Schneckenschwarm mit Tempo
Moritz Eggerts Oper „Die Schnecke“ am Nationaltheater
Mannheim uraufgeführt
Nach der umjubelten Kinderoper „Dr. Popels fiese Falle“
ist Moritz Eggert erneut ein Publikumserfolg gelungen. Der 38-Jährige
ist „Composer in Residence“ der Spielzeit 2003/2004
am Mannheimer Nationaltheater. Auch in der „Schnecke“,
seinem sechsten Bühnenwerk, schimmert recht oft und kräftig
sein musikalisches Vorleben als Jazz- und Rockmusiker durch. Hinzu
kommen einige geschickt placierte Zitateinsprengsel.
Schnecken umschwärmen
mich:
Andrea Szántó als Inge. Foto: Hans Jörg
Michel
Die Schnecke war als Sing- und Tanzspiel konzipiert. Von der Ballettchoreographie
blieb dann lediglich das devote Schlängeln und Kriechgebaren
von fünf nacktschneckenähnlichen Figuranten übrig.
Hans Neuenfels, vom Publikum wegen seiner tiefenpsychologischen
Neudeutungen gefürchtet, zeichnete nicht nur für die Inszenierung
verantwortlich, sondern auch für das Textbuch – sein
zweites nach „Giuseppe e Sylvia“ für Adriana Hölszky.
Inspirationsquelle für das Libretto war das Gedicht „Caracola“
des von Faschisten ermordeten spanischen Autors Federico García
Lorca – ein Gedicht mit Atmosphäre, aber ohne Handlung.
Neuenfels bringt Nacktschnecken auf die Bühne, die wegen ihrer
Schutzlosigkeit eines Hirten bedürfen, dazu Kindesmord mit
der Gartenschere, zugespielte „Raspelzungengeräusche“,
giftige Hecken und anderes Ländliches. La caracola ist jedoch
keine Landschnecke, weder mit Haus (el caracol maskulin und ohne
a) noch ohne Haus (la babosa), sondern eine Meeresschnecke oder
große Muschel. Den Skandalregisseur reizte wohl weniger die
tatsächlichen Lebensumstände der Gedicht-Tiere als vielmehr
der Umstand, dass Schnecken Hermaphroditen sind. So bot sich die
Gelegenheit, die Palette der auf der Opernbühne üblichen
Sexualpraktiken um das Liebesleben der Zwitterwesen und um ihre
kannibalischen Mordgelüste zu erweitern. Da wird massakriert
und masturbiert, Hauptsache es reimt sich. Das schlüpfrige
Sujet schlägt sich in einer Fülle zotiger Verse nieder:
anal reimt sich auf fatal, Arsch auf barsch oder scheißen
auf heißen; dazwischen gibt es kleine Kalauer: Sauna auf Fauna,
Kalbsbries auf Striptease.
Neuenfels stibitzt ein wenig bei Aschenputtel oder Faust, zitiert
Joseph Goebbels und schlittert mit Karacho, Lust und Ochsenbrust
über die Geschmacksgrenze: Muss man Contergan auf Wahn reimen?
Die Geschichte ist ein Konglomerat behandlungsbedürftiger Beziehungen
vom Bruderhass bis zum Ödipuskomplex. Das bizarre Drama einer
reichen Familie wird erzählt. Sohn Edgar promoviert, während
sein Bruder Manfred an der Universität scheitert und aus der
Familie verstoßen wird. Edgar dankt den Eltern für das
überschriebene Vermögen, indem er sie aus dem Haus wirft.
Die Eltern ihrerseits rächen sich mit Mord: Er und seine Freundin
werden mit der Gartenschere zerschnitten, dass die giftig grünen
Eingeweide hervorquellen. Der zurückgekehrte Manfred bringt
die Eltern um. Die Stimmlagen der sechs Gesangsrollen sind konventionell
gewählt. Sympathieträger Manfred (Xavier Moreno) ist Tenor,
seine Liebste Helga (Marina Ivanova) Sopran. Der tückisch-schleimige
Edgar ist eine Baritonpartie (Thomas Berau), dessen Freundin Inge
(Andrea Szántó) Mezzo. Der Chef des Familienclans
Vater Arthur muss ein Bass sein (Tomasz Konieczny) und die skurrile
Mutter Maria (Ceri Williams) Alt.
Das Bühnenbild (Christof Hetzer) mit braunen Pappfassaden wird
durch den bunten Chor belebt (Kostüme: Elina Schnizler). In
Berufskleidung von der OP-Schwester bis zum Schornsteinfeger und
zeitweise in blaue Müllsäcke verhüllt, schlagen sich
die Choristen auf die Seite des erfolgreichen Edgar, während
der Versager Manfred nur von den Außenseitern Irmgard (Almut
Henkel) und Florian (Daniel Eberle) unterstützt wird.
Bis die verschiedenen Handlungsstränge verknüpft werden,
ist die Oper fast vorüber und so bleibt als strukturgebendes
Element einzig die Musik.
Moritz Eggert gliedert durch Vielfalt. Hier gibt es keine ermüdende,
monumentale Avantgarde-Routine, sondern ein reiches Spektrum, bei
dem die einzelnen Farben von E- und U-Musik sehr durchdacht eingesetzt
sind. Langsam gespielte Terzenketten der Streicher dienen als Symbol
für die Dualität, das Zwitterdasein, der Schnecke. Dieses
einzige Leitmotiv begleitet die ersten Auftritte des Versagers Manfred,
während der erfolgreiche Edgar mit knackigen Blechbläsereinwürfen
charakterisiert wird. Im rasanten Wechsel folgt auf Bigbandsound
ein Ländler. Ein Liebesduett erscheint durch Begleitung von
Blockflöte und Harfe noch zarter. Es gibt weichgespülte
Musicalklänge, wenn vom Garten Eden gesungen wird, eine psychedelische
Glockenspielmelodie oder eine Klaviertarantella.
Eggert spielt mit Zitaten, so darf die Mutter mit der Turmschneckenfrisur
ihren Namen Maria á la „Westsidestory“ anklingen
lassen und in der Ödipusszene markiert die Trommel den Bolerorhythmus.
Man hört Schulbusschlager und ahnt die Nationalhymne, ein Konfettiregen
entlehnter Musikschnipseln prasselt auf das Publikum nieder. Die
Eltern feiern die geglückte Rache mit einem synkopenreichen,
orgiastisch-mörderischen Klavierkonzert und der einst so sensible
Manfred der anfangs süße Belcantoarien sang, trägt
nach seiner Verwandlung zum Macho die Neuenfels-Dadaverse –
eigentlich naheliegend - als rasanten Rapp zu rasseldominierten
südamerikanischen Rhythmen vor.
Eggert, der Meisterschüler des Mün-chner Komponisten
Wilhelm Killmayer, greift genauso gekonnt und zielsicher in die
Farbkiste, wie sein Lehrer in die der musikalischen Formen. Wer
sich so gekonnt im Fundus bedient, mit Stilen jongliert, und dabei
seinen Eigenen entwickelt, für den gilt „Mischen is possible“.
Die Schnecke wird Spuren hinterlassen.