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nmz-archiv
nmz 2004/07 | Seite 7
53. Jahrgang | Juli/Aug.
Stüclwerk
Hinreißende Hörgeschenke, zum liebhaben schön
Das „Wiegenlied“ des norwegischen Komponisten Halfdan
Kjerulf (1815–1868) · Von Diether de la Motte
Vor Jahren war ich als Gastdozent eine Woche in Norwegen. Gute
Arbeit mit klugen aufmerksamen Studenten, die den Deutsch Sprechenden
gut verstanden. An einigen Abenden Kammerkonzerte. Und in einem
wurde ein Klavierstück angesagt von... Glückliche Gesichter
in der Runde, aber der Zugereiste hatte den Namen nicht verstanden
und musste nachfragen. Halfdan Kjerulf schrieb mir ein lieber Nachbar
auf einen Zettel, und aufmerksam beobachteten die Studenten, wie
der Gastdozent auf diese Musik reagierte. Hingerissen war er! Sogleich
nach Ende des Konzerts musste ich den Veranstalter bitten, mir eine
Kopie dieser Komposition zu schenken. „Ich kann nicht abreisen,
ohne diese wunderbare Musik immer bei mir haben zu können!“
Zweiundfünfzig Takte auf zwei Seiten umfasst dieses Wiegenlied,
op. 4 Nr. 3. Sechzehntel laufen von Anfang bis Ende. Vor der zwölftaktigen
Coda fünf achttaktige Abschnitte: A-A1-A-B-A. Einfacher geht
es doch nicht. Erstes Geschenk aber in Takt drei: Die rechte Hand
bleibt stehen, keine Melodie mehr… aber eine dritte Hand lässt
hoch oben fis-cis leuchten. (Notenbeispiel 1)
Ab Takt fünf dieselben vier Takte nochmals… aber wer
ist denn jetzt Melodie bei den beiden überraschenden cis-Geschenken
der linken Hand?! (Notenbeispiel 2)
In Takt 22 erklingt die erste Subdominante, bis dahin nur T D
T und D D D. Welcher Theorielehrer aber erklärt mir den Klang
in der zweiten Hälfte der Takte 2 und 6? Ais ist doch nicht
Wechselnote im Dominantklang, sondern Tonika in der Dominante. Zustimmung
vom kleinen Finger der linken Hand, der die Tonika ja nicht verlassen
hat.
Will ich dann aber die Melodie mitsingen in den vier Cis-Dur-Takten
9 bis 12, werde ich ratlos. Singen möchte ich (Takt für
Takt) zweistimmig/zweistimmig/Oberstimme/wieder zweistimmig. (Notenbeispiel
3)
Und in den vier Takten 21–24 um den ersten Subdominanten-Auftritt
singe ich erst Oberstimme, dann weiß ich nicht genau, dann
bis Schluss die dritte Stimme. (Notenbeispiel 4)
Noch die ersten vier Takte der Coda 41–44. Ich möchte
singen Unterstimme/Oberstimme/Ober- und Unterstimme/Mittel- und
Unterstimme! (Notenbeispiel 5)
Hinreißend, wie sich diese Musik ohne hörbaren Abschluss
in die Stille zurückzieht: Cis ist doch kein „letzter
Ton“ sondern… ja, Wiegenlied, es wird vor dem Schlusston
eingeschlafen. (Notenbeispiel 6)
Auch gute Musik darf unterwegs sagen: „Jetzt pass mal auf,
tolle Stelle!“ und darf schmunzelnd sagen: „Da hab ich
dich überrascht, was?!“ Hier dagegen kostbare Hörgeschenke,
die nicht alle beim ersten Hören erkannt und benannt sein wollen.
Man darf diese Musik lieben, und Liebe gibt nicht auf einmal alles
Preis, sondern schenkt immer wieder neu.
Vergessene Kostbarkeiten
Erst jetzt wird mir die Dummheit (weil Einseitigkeit) meiner Gedanken
bewusst: Immer sage ich „Melodie“. Dann liegt also oft
die Begleitung über der Melodie? Falsche Rangordnung und falsche
Benennung. Man singe Freunden die Oberstimme der ersten zwei Takte
vor und frage sie: „Von wem und wann komponiert?“ Antwort
natürlich: „Eine mir bislang unbekannte Bachinvention!“
Alles erklingt schnell wechselnd unten, oben und in der Mitte. Doppelter
Kontrapunkt also? Wie ist diese Musik außerhalb von „typisch
1730“ oder „typisch 1830“, aber eben nicht Stilgemisch,
sondern eine hinreißende einmalige „Findung“.
Abschließende Bitte an Musikverlage: Wer würde denn
einen dicken Notenband von Kjerulf kaufen? Niemand natürlich.
Toll wäre aber einmal ein Heft „Vergessene Kostbarkeiten
für Klavier“. Und außer zwei Stücken von Kjerulf,
von Fanny Hensel aus den Liedern ohne Worte op. 8 die Nummern 2
und 3 und von Stephen Heller op. 79 Nr. 5 und op. 81 Nr. 15 und
ein Lamento von Wilhelm Friedemann Bach und… und…
Diether de la Motte
Norwegische Romantik
Halfdan Kjerulf: Stationen eines Komponistenlebens
Der 1815 in Christiania (heute Oslo) geborene Komponist Halfdan
Kjerulf arbeitete zunächst als Klavierlehrer und Leiter des
norwegischen Studentengesangsvereins, für den er erste Stücke
schrieb, bevor er ab 1848 erstmals Theorie- und Kompositionsunterricht
bei Carl Arnold erhielt. Ein von seinem Lehrer vermitteltes Stipendium
erlaubte ihm Studien bei Nils Wilhelm Gade in Kopenhagen und Ernst
Friedrich Richter in Leipzig. Von 1851 bis zu seinem Tod im Jahr
1868 war er in Oslo als Komponist, Klavierlehrer, Dirigent und
Konzertveranstalter tätig.
Als seine Hauptwerke werden die Lieder angesehen, die er einerseits
für Solostimme und Klavier, andererseits für Männerchor
schrieb. Neben den Werken in seiner Muttersprache, die unter Einfluss
der Volksmusik den Beginn einer spezifisch norwegischen Romantik
markieren, vertonte er auch zahlreiche Texte deutscher Dichter
(Eichendorff, Rückert u.a.).
Halfdan Kjerulfs sämtliche Klavierstücke, herausgegeben
von Nils Grinde, erschienen 1980 im Rahmen der inzwischen abgeschlossenen
Gesamtausgabe bei Musikk-Huset, Oslo (M.H. 2230)