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nmz-archiv
nmz 2004/09 | Seite 11
53. Jahrgang | September
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Nach Adorno
„Dass die vorgegebene Sprache der Musik Reflexion erheische,
problematisch geworden sei, meint etwas sehr Triftiges, keineswegs
bloß, dass etwa die traditionelle Tonalität aus der Mode
gekommen wäre und dass, wer sich für up to date hält,
sich geniere, mit jenen Mitteln zu komponieren. Sondern sie sind
objektiv falsch geworden. Man kann von dem Bewusstseinsstand der
Epoche nicht absehen.“
Derartige Sätze kennt man doch. Richtig, Adorno heißt
der Autor. Lange ist’s her, dass solche sorgfältig gedrechselten
Aussagen ehrfürchtig als Lehrsätze zitiert wurden. Wenn
man sie heute liest, so fühlt man sich zugleich irritiert und
animiert: irritiert über die eitle Umständlichkeit, mit
der der Autor einfache Sachverhalte in komplizierte Satzperioden
zu kleiden verstand, und animiert zu einem Spiel, das dem Ostereiersuchen
im Garten gleicht. Denn wer sich durch die kunstvoll angelegten
grammatikalischen Hecken und Wortgebüsche durchgearbeitet hat,
wird mit einem stattlichen Ertrag an hartgekochten Wahrheiten belohnt.
Adornos apodiktisch vorgetragene Leitidee vom „historischen
Materialstand“, an dem sich eine Komposition zu orientieren
habe, wolle sie nicht schon zum Zeitpunkt ihres Entstehens als überholt
gelten, hat inzwischen einiges von ihrem Glanz eingebüsst.
Auch die mutigsten Apologeten glauben wohl nicht mehr so recht an
dieses Fortschrittsparadigma, das zwei Jahrzehnte lang das Komponieren
vor allem in Deutschland in eine Richtung kanalisierte. Dass man
vom Bewusstseinsstand einer Epoche nicht absehen könne, ist
inzwischen weitgehend zum Gemeinplatz geworden. Nicht zuletzt dank
Adorno, der auf diesem Gedanken wohl deshalb so insistierte, weil
er für seine Zeit, die fünfziger und sechziger Jahre,
noch alles andere als selbstverständlich war.
Ein seltsam ambivalentes Gefühl beschleicht den Leser, wenn
er die einst kanonischen Schriften wieder zur Hand nimmt. Einerseits
fühlt er sich alle paar Sätze zum Ausruf: „Ja genau!
So ist es!“ verleitet, er freut sich an der Unnachgiebigkeit,
mit der ein humanistischer Kulturbegriff als radikale Negation des
herrschenden Kulturbetriebs ins Feld geführt wird. Hier ist
Adorno ungebrochen aktuell, denn die Realität hat seine schlimmsten
Befürchtungen übertroffen.
Doch dann gibt es andererseits diesen eigentümlichen Tonfall.
Da spricht einer, der keine Fragen stellt, weil er alles weiß:
Wie die Komponisten schreiben sollen, wie die Welt ist und wie sie
sein sollte. Und er weiß, dass er das weiß. Aus dieser
Selbstgewissheit heraus verteilt er ringsum seine ideologischen
Maulschellen: an die dumpfen Reaktionäre, an die hinterhältigen
Pluralisten, an die Leute, die der modernen Musik gegenüber
„für aufgeschlossen sich halten“ und an die anonyme
Farmersfrau im mittleren Westen, die im Radio Klassik hört.
Sie alle sind zu bekämpfen, weil sie das falsche Bewusstsein
haben.
Und der Oberwatschenmann ist Sibelius, der unablässig und
meist im Vorbeigehen als hoffnungsloser Dilettant niedergemacht
wird. Das könnte den komischen Effekt eines Running-Gag haben,
wirkt bei dem gehässigen Unterton aber wie der Tick eines Sektenpredigers.
Derlei kam seinerzeit bei Gleichgesinnten an, stieß außerhalb
des Elfenbeinturms aber auf wenig Gegenliebe. Potenzielle Sympathisanten
wurden mehr verschreckt als überzeugt. Liest man diese Texte
heute, so scheint es, als errichte hier ein Autor um der reinen
Lehre willen einen Stacheldrahtzaun um seine Erkenntnisse, damit
sie ja nicht in die Hände Unbefugter gerieten.
Das Reden über die neue Musik, ob in kritischer oder bloß
beschreibender Weise, gebärdet sich heute nicht mehr so rechthaberisch.
Wer sich ans Publikum wendet, will ihm nicht mehr zuallererst seine
Inkompetenz nachweisen, sondern versucht ihm entgegen zu kommen
– es da abzuholen, wo es intellektuell und mentalitätsmäßig
steht.
Die verbalen Vermittler sind vom hohen Ross der Allwissenheit
herabgestiegen. Man ist realistischer geworden, auch bescheidener,
was die Möglichkeiten und Ziele aufklärerischer Bemühungen
angeht. Der Weltgeist wird nicht mehr als Ganzes, das das Unwahre
ist, dem Publikum um die Ohren geschlagen; man verbucht schon als
Erfolg, wenn ein einzelner Gedanke auf fruchtbaren Boden fällt
und der keineswegs so unbedarfte „Rezipient“ einem seine
Aufmerksamkeit schenkt.
Es geht ja nicht um theoretisches Missionieren, sondern um ganz
reale Dinge: Die Menschen, die empfänglich sind, dazu zu bringen,
ihr Hörbewusstsein zu entwickeln und ins Konzert zu gehen.
Hier spielt sich heute und morgen die entscheidende Vermittlungsarbeit
ab. Bleibt sie aus, werden in zwanzig Jahren die Türen der
Konzertsäle dicht gemacht, weil niemand mehr hingeht.
Das klingt pragmatisch und ist es auch. Adorno hätte darin
wohl nichts als blinde Macherideologie gesehen und es mit spitzen
Fingern beiseite gewischt. Gibt es doch kein richtiges Leben im
falschen...
Doch vielleicht hat er am Ende sogar recht? Dann wäre es umso
notwendiger, das zu tun, was als richtig erscheint. Geht es heute
doch nicht mehr darum, wortreich theoretische Aporien zu beklagen,
sondern die realen Widersprüche auszuhalten, indem man handelt.