[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2004/09 | Seite 45
53. Jahrgang | September
Oper & Konzert
Mythische Durchdringung der heutigen Welt
Harrison Birtwistles Oper „The Io Passion“ bei den
Bregenzer Festspielen
Wenn Zeus die schöne Io begattet, geben sie einen Hoketus
(den mittelalterlichen Stottergesang) aus den Vokalen „A“
und „I“. Und Göttermutter Hera droht, ihm im Wiederholungsfalle
die Rute in Stücke zu hauen, was beim Berufshengst Zeus durchaus
einige Irritationen hervorruft. Das alles freilich geschieht nur
im Traum. Was war voraus gegangen? Auf der Insel Lerna begegneten
sich in heutigen Tagen ein Mann und eine Frau. Die Liebe war aufgeflammt,
so heftig, dass auch die begrabenen Götter von Lerna geweckt
wurden und sich an den alten Zeus-Io-Mythos erinnern. Zeus konnte
sich in der mythenbildenden Zeit vor der Entdeckung nur aus der
Schlinge ziehen, indem er Io in eine weiße Kuh verwandelte,
die sich die misstrauische Hera als Geschenk erbat. Der hundertäugige
Wächter Argos sollte die Kuh bewachen, wurde aber Aug um Aug
eingeschläfert. Voller Zorn schickte Hera der flüchtenden
Kuh Io, gleichsam als Fluch, eine Rinderbremse hinterher. Dieser
Fluch wurde durch die Liebestat der beiden Protagonisten wieder
erweckt.
Verzweifelte Collage aus
Flucht und der Gier der Annäherung. Szene aus „The
Io Passion“. Foto: Festspiele Bregenz
Wieder zu Hause leidet die Frau unter dem Ferienerlebnis. Sie sucht
Abstand, bleibt in innerer Unruhe, immer wieder von einer launischen
Fliege belästigt. Der Mann aber will den Kontakt wieder knüpfen,
steht draußen vor der Tür der Frau, traut sich, obwohl
er dazu ansetzt, nicht zu klopfen, wirft einen Brief ein. Drinnen
wird die unruhig träumende Frau vom fallenden Brief geweckt,
sie liest ihn, entschließt sich zu einer Antwort. Dieser Innen-Außen-Vorgang
zieht sich in mehrfacher Wiederholung und leiser Abwandlung wie
ein Strang durch Birtwistles (der am 15. Juli seinen 70. Geburtstag
feierte) neue Oper „The Io Passion“, die im Juni beim
Aldeburgh-Festival uraufgeführt wurde und nun bei den Bregenzer
Festspielen aufgenommen wurde.
Regisseur Stephan Langridge hat eine einfache und in ihrer Einfachheit
starke Bildidee gefunden: Links auf der Bühne sieht man das
Haus mit Backsteinfassade, Fenster und Tür von außen,
rechts spiegelsymmetrisch von innen, als hätte man die Wand
in der Mitte zu zwei Scheiben durchgesägt und dann aufgeklappt.
Die Symmetrie ergreift auch die Darsteller. Blickt die Frau mit
dem Rücken zum Publikum auf der rechten Seite aus dem Fenster,
dann sieht man links die Frau mit dem Gesicht zum Publikum aus dem
Fenster schauen. Stellt sie die Stehlampe an, dann macht dies auch
ihre Spiegelgestalt und Licht dringt von dort auf die Straße.
Der Mann verbirgt sich, wird also durch das Fenster aus dem Innenraum
nicht gesehen. Wirft er den Brief durch den Türschlitz, dann
fällt der Brief gleichzeitig auf der anderen Seite hinein.
Im Verlauf der von immer drastischeren Götter-Träumen
der Frau durchbrochenen Wiederholungshandlung löst sich die
Spiegelsymmetrie immer mehr auf, innen und außen verschwimmen,
ebenso die Korrelation zwischen Mann und Frau und ihrer Doppel-
und Tripelgestalten.
Das ist ein auch musikalisch faszinierendes Konzept. Birtwistle
hat hier vielleicht am entschiedensten verwirklicht, was ihm immer
schöpferisches Anliegen war: die mythische Durchdringung der
heutigen Welt, die Bildung von Archetypen, die in immer anderer
Gestalt in der Dialektik von Identität und Nicht-Identität
die Geschichte durchziehen. Diese Konstellation hat er auch seinem
Librettisten Stephen Plaice vermittelt, der sie mit versierter,
manchmal wohl auch zu plakativ versierter Hand in Worte setzte.
Die Musik aber nimmt eine ganz merkwürdige, auch im Kontext
von Birtwistles Œuvre singuläre Zwischenstellung ein.
Verlangt wird nur die kleine Besetzung aus Streichquartett (Diotima
String Quartet) und Klarinette (Alan Hacker), und in dieser Intimität
gelang ein Vexierbild aus theatraler Nähe von sirrender, auch
lautmalerischer Kompaktheit und einer der Filmmusik nahen Hintergrundspräsenz.
Sie drängt sich fast nie opernhaft nach vorne, sondern bleibt
in der Schwebe zwischen konkret direkter und nur hüllkurvenartiger
Wahrnehmung. Freilich steuert die Musik in geradezu nervöser
gestischer Anteilnahme das Bühnengeschehen, allein schon indem
sie gleichsam choreographische Zeichen für die Spiegelaktionen
gibt.
Und dennoch dämmert sie zugleich in einer zwischenbewussten
Ebene. Sie nimmt die Farben des Geschehens auf, wird zum schwirrenden
Flügelschlag der Bremse, färbt sich bukolisch ein im rüden
Maskenspiel der Io-Begattungen, die immer mehr Züge von volkskultischer,
rauhnachtartiger Direktheit annehmen. Immer wieder aber zieht sie
sich zurück zu allein seismographischer Nachzeichnung, die
im Unterbewussten wahrgenommen wird. Hierin aber gelingt ihr eine
verblüffende Nähe zum Mythos selbst. Er ist ständig
zugegen, steuert Verhaltensnormen und Emotionen, zugleich aber wird
er nie objektiv konkret. Ein intellektuell begriffener Mythos ist
keiner mehr. Er wirkt da, wo die Klarheit aussetzt, dann aber umso
nachdrücklicher. Seit Io und Zeus, seit dem eifernden Fluch
der Hera, die sich am Geschehenen rächt, ist die Beziehung
von Mann und Frau getrübt und kontaminiert. Die Empfindungen,
das Wollen laufen auseinander.
Im Untergrund laufen Kraftströme, die die Wirklichkeit nicht
kennen will. Auf dieser Ebene verläuft die Musik Harrison Birtwistles.
Ein spannendes Konzept, das den Zuschauer (der alles, Bild, Spiegelbild,
Doppelung und ihre Konstellationen sieht) und Zuhörer (der
im Unterbewussten grummelnde Kräfte zwischen drastischer Klarheit
und in sich verfließenden Energieflüssen wahrnimmt) selbst
in der Unsicherheit belässt. Kuh, Stier und Bremse: eine verzweifelte
Collage aus Flucht und der Gier der Annäherung.