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nmz-archiv
nmz 2004/09 | Seite 47
53. Jahrgang | September
Oper & Konzert
Gstaader Renaissance
Das Menuhin Festival mit neuem Konzept
Die mittelalterliche Kirche von Vers-l’Eglise ist wunderbar
gelegen in einem Hochtal zwischen Berner Oberland und Wallis. Mit
weiteren Kirchen in Saanen, Rougemont und Lauenen zählt sie
zu den zentralen Aufführungsorten des Menuhin Festivals Gstaad.
Vor der Kirche flanieren die Konzertbesucher: Banker aus Genf mit
ihren Gattinnen im Abendkleid, einige Winzer, Lehrer und Handwerker
aus dem Dorf oder dem nahe gelegenen Turbachtal, ihre Kinder haben
sie ganz selbstverständlich mitgebracht; dazu reisende Musikenthusiasten
aus Bern, Zürich oder Basel, ein polyglottes Völkchen
in Erwartung eines Musikerlebnisses. Eine elegante Dame beugt sich
zum Trinken über den Wasserstrahl des Dorfbrunnens –
seinen Apero muss man schon hier nehmen, denn es gibt keine Häppchen
und überteuerten Getränke. In dieser ländlichen Idylle
lenkt nichts ab vom Wesentlichen, hier geht es um Musik pur.
Hier nahm alles seinen Anfang:
In der Dorfkirche Saanen gab Yehudi Menuhin sein erstes
Konzert. Foto: Anja Tanner
In dieser Szene erkennt man viel von dem Geist, in dem Yehudi Menuhin
das Festival 1956 aus der Taufe gehoben hatte. Er verbrachte damals
die Ferien in Gstaad, erlebte die Landschaft, die Menschen und die
Atmosphäre der alten Kirche in Saanen, der Hauptstadt des Saanenlandes.
Der besondere Charme dieser Kirche, so will es die Festival-Legende,
veranlasste den Geiger dazu, dort ein Konzert zu geben: Es wurde
die Initialzündung fürs Yehudi Menuhin Festival, das von
da an bis 1996 jährlich unter seiner künstlerischen Leitung
stattfand.
Der Virtuose hatte sich einen anderen großen Geiger als seinen
Nachfolger gewünscht: Gidon Kremer. Der kam mit viel Elan und
interessantem künstlerischen Konzept, doch das Publikum blieb
aus – es konnte und mochte seinem anspruchsvollen Programm
nicht folgen. Ein zweites Lockenhaus war Kremer nicht geglückt,
er verließ Gstaad 1998. In den Folgejahren führte Festivalpräsident
Leonz Blunschi das Festival mit einem konservativen Programm –
das im Vergleich zu früheren Jahren auch ein Low Budget Programm
war – aus der Finanzmisere. Gleichzeitig machte man sich auf
die Suche nach einem neuen künstlerischen Leiter und entschied
sich für das Konzept von Christoph F. Müller, Geschäftsführer
des Kammerorchesters Basel, der ein weit gespanntes künstlerisches
Netzwerk und solide Managementkenntnisse mitbrachte. Der entscheidende
Grund, warum man sich ab 2002 in Gstaad für den heute 34-jährigen
Newcomer entschied und nicht für einen gestandenen Intendanten,
war das Konzept des Baslers.
„Dieses neue Konzept fußt auf der Idee, dass man Menuhins
Geist in verschiedenen Fassetten weiterleben lässt. Man setzt
auf die Traditionen in den Bereichen Kammermusik und Orchester und
gleichzeitig auf seine innovativen Ideen. Etwa das Interesse, verschiedene
Kulturen und verschiedene Musikstile, auch verschiedene Menschen
zusammen zu bringen.“
Müller konzipierte für Gstaad ein „Drei-Sparten-Modell“,
das jetzt im dritten Jahr läuft. „Festlich – Kammermusikfest
Gstaad“ heißt die erste Sparte. Kammermusik ist –
wie bereits erwähnt – der Nukleus des gesamten Unterfangens.
Sparte zwei firmiert unter „Klassisch – Orchesterkonzerte
& Oper“. Hier kommt das 2002 fest errichtete neue Konzertzelt,
das das bisherige Provisorium ablöste, ins Spiel.
Sparte drei geht in die Gegenwart: „Experimentell –
todays music“. Das zielt weniger auf die Moderne wie sie etwa
Kremer pflegte oder der große Festival-Bruder Lucerne Festival,
sondern das meint die Faszination von Tango, Klezmer oder Jazz.
In diesem Jahr stand die Uraufführung eines Sinfoniekonzerts
für Alphorn von Daniel Schnyder im Mittelpunkt. Der Schweizer
Komponist und Saxophonist mit Wohnsitz in New York führte auch
bei dem Film zu Richard Strauss‘ „Alpensinfonie op.
64“ die Regie.
Hintergrund seines anspruchsvollen Konzeptes zwischen Event und
Hochkultur war für Müller eine genaue Analyse des Publikums.
„Das Menuhin Festival ist ein Genuss-Festival, das im Einklang
mit der Natur und im Einklang mit Sich-selbst-Erholen steht. Es
lebt von der Kombination aus Urlaub und ergänzenden Konzerten.
Es ist kein urbanes Publikum hier. Man muss auch sagen, dass die
Durchmischung hier einmalig ist. Da sind die Bergbauern aus den
Seitentälern, die in die Konzerte kommen. Aber sie kommen wirklich
nur, wenn es keine Risiken sind, also wenn es wirklich garantiert
nur Wiener Klassik ist. Und dann die Feriengäste, ohne die
sich kein Konzertsaal in dieser abgelegenen Region füllen würde:
„Es gibt auch den versnobten Teil der Feriengäste, die
nur kommen, weil es ein gesellschaftlicher Anlass ist. Aber denen
gegenüber möchte ich mich eigentlich im Programm nicht
äußern.“
Doch es gibt auch andere Reisende: „Anspruchsvolle Leute
aus Genf, Lausanne, Bern, Basel und Zürich. Wir haben sehr
viele Feriengäste aus England hier, weil zwischen dem Berner
Oberland und England immer eine starke Beziehung herrschte. Das
ist Publikum, das gewisse künstlerische Leistungen zu beurteilen
weiß. Für das zu programmieren, macht dann wirklich Spaß.“
Ähnlich wie es Hans-Werner Henze in Montepulciano gelungen
war, die Poliziani in sein Festival mit einzubinden, war es Menuhin
in vier Jahrzehnten gelungen, dass sich die regionale Bevölkerung
mit „ihrem“ Festival identifiziert. Nochmals Müller:
„Die Leute mit denen ich hier zu tun habe, die wissen dank
Menuhin etwas über Musik. Wenn ich etwa mit einem Schreinermeister
über Schostakowitsch spreche, und der weiß dann wirklich,
was Schostakowitsch auszeichnet und was ihn prägt. Das hätte
ich sonst, wenn ich irgendwo im Schweizer Mittelland absteige und
mit einem Schreinermeister über Schostakowitsch spreche, nicht
erlebt. Faszinierend. Diese Leute kommen immer noch in die Konzerte
und die muss man wirklich pflegen.“
Auch Gidon Kremer war in diesem Jahr mit einem neuen Programm zu
Gast, eine Geste der Wertschätzung und der Versöhnung
des neuen Machers gegenüber dem Vorgänger. Er bestritt
mit seiner Kremerata Baltica Orchesterwerke von Schostakowitsch,
Schnittke, Bakshi. Trotz allen Events und Experimenten: das Herz
des Festivals bleibt die Kammermusik. Alfred Brendel war gleich
an vier Abenden zu hören, unter anderem auch gemeinsam mit
seinem Sohn und dem Leipziger Streichquartett.
Gleich vier Abende? Der Grund dafür liegt darin, dass Müller
nicht nur fertige Programme einkauft, sondern Musiker einlädt,
mehrere Tage Gast in Gstaad zu sein und Konzertabende speziell für
diesen Zeitraum zu konzipieren. Ein Angebot, zu dem kaum ein Künstler
nein sagen kann, dessen Alltag für gewöhnlich aus Konzert,
Hotel, Flugzeug, Stimmprobe, Konzert und Hotel besteht. Doch nicht
nur bekannte Namen wie Brendel oder Kremer werden eingeladen. Eine
carte blanche für vier Konzertabende erhielt der junge französische
Geiger Renaud Capucon: Gemeinsam mit Emmanuel Pahud, Paul Meyer,
seinem Bruder Gautier Capucon, Gérard Caussé und Alexander
Lonquich gestaltete er drei bemerkenswerte Kammermusikabende, mit
Schwerpunkt auf französischer Musik von Fauré bis Messiaen,
aber auch mit Werken von Mozart und Berio.
Yehudi Menuhin hätte sicher seine Freude an diesen Programmen
gehabt – und von Low Budget ist 2004 auch nichts mehr zu spüren.