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nmz-archiv
nmz 2004/09 | Seite 44
53. Jahrgang | September
Oper & Konzert
Geistige Brücken in die Gegenwart
Zu den Sommerlichen Musiktagen Hitzacker 2004
Nicht nur dass Hitzacker, dieses stille Städtchen in der Elbtalaue
mit seinem Weinberg am lieblichen Hügelrand beinahe toskanisch
anmutet – bei pünktlich eingetroffenem mediterranen Hoch
verführten die diesjährigen Sommerlichen Musiktage noch
zusätzlich mental zu „Italienischen Reisen“.
Das traditionelle, ambitionierte Standortfestival hatte sich auch
in dieser ersten Augustwoche hoch angesiedelte Ziele gesetzt.
In Verbindung mit dem Klassischen ist Verwobenheit von Alter und
Neuer Musik das Anliegen der Kammermusiktage. Am Webstuhl setzt
der vor Ideen sprühende Intendant Markus Fein die Knoten dicht
an dicht, auch zuweilen übereinander und muss schon bei aller
Begeisterung aufpassen, dass aus dem wohl proportionierten Muster
nicht ein Patchwork wird. Grenzwertig: Das von dem früheren
Hitzacker-Kompositionspreisträger Johannes Harneit nach Häppchenart
der dritten Kulturradio-Programme zusammen gewürfelte Eröffnungskonzert
mit Evangelisti, Wagner, Liszt, Berlioz und Donizetti. Vorbildlich
dagegen: der verflochtene Dialog von Luigi Nonos Streichquartett
„Fragmente – Stille. An Diotima...“ mit Madrigalen
der frühen Neuzeit in einer beeindruckenden Realisation mit
dem casalQUARTETT und dem Orlando di Lasso Ensemble.
Hierfür wurde im Mai dieses Jahres der renommierte Förderpreis
der Ernst von Siemens Musikstiftung vergeben.
Auch die Porträtkonzerte für den 2003 verstorbenen Luciano
Berio in memoriam regierte die Idee der Fülle mit „durchkomponierten“
Programmen im gesamt-kulturellen Sinn, die sich zu groß angelegten
Puzzles zusammen setzen: seine Elementen-Klavierstudien mit Scarlatti,
die Sequenze mal höchst vergnüglich mit Eco-Texten, mal
mit Madrigalen von Monteverdi und Schütz.
Oder das Quartetto III nach Celan mit Schuberts Quartettsatz und
seinen Klaviertrios Es- und B-Dur. Herausragend spielte hier übrigens
das sehr sensible junge Hamburger Evrus-Trio.
Im vielbeachteten Zentrum der Hommage stand Berios große
Klaviersonate von 2001 in Verbindung mit Beethovens op. 101 und
110, mit dem phänomenalen, hier viel zu wenig bekannten Pianisten
Andrea Lucchesini. Er hatte Berios Sonata, dieses Werk an den Grenzen
der Spielbarkeit uraufgeführt und im Vorfeld mit dem Komponisten
die pianistischen Machbarkeiten diskutiert. Als Sternstunde möchte
man die Hörerakademie mit Andrea Lucchesini und dem Widmungsträger
der Sonate, dem renommierten, in Harvard lehrenden Musikwissenschaftler
Reinhold Brinkmann werten. Gemeinsam schlüsselten sie als Zeitzeugen
das schwierige Beziehungsgeflecht innerhalb der Komposition auf.
Traditionelles zum freudigen Wiedererkennen von Vivaldi über
Liszt bis Wolf und die Neue Wiener Schule gab es auf gleichbleibend
hohem Niveau, dazu Ausflüge „auf die Straße“
mit dem umwerfenden Szene-Quartett „quadro nuovo“, ein
Geheimtipp.
Dazu noch Hörerakademie, Festival-Fellows-Programm, eine
attraktive Mitmach-Ausstellung von Lüneburger Studenten der
Kulturwissenschaft zur Italienliebe großer Komponisten, Podium
Rolf Liebermann, Kino Open Air („La Strada“ –
was sonst) und das gelungene Experiment einer „sichtbaren“
Live-Hörspiel-Produktion des NDR „Zustände wie im
alten Rom“ mit dem großartigen Horst Bollmann: das Füllhorn
der Italianità quoll über und über vor Ideen-Geblitze
in alle Himmelsrichtungen, und das stets beleuchtet von intensivem
und lustvollen künstlerischen Niveau.
Wie antizipierte Annette Schwandtner für den Niedersächsischen
Kulturminister doch schon in ihrem Grußwort zur Eröffnung:
„Kaum ein Festival in Niedersachsen hat diese Qualität“.