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nmz-archiv
nmz 2004/09 | Seite 44
53. Jahrgang | September
Oper & Konzert
Weit über Epochengrenzen hinaus
14. Internationales Kammermusikfest Lübeck 2004
Wenn ein Konzept sich bewährt hat, denkt niemand unmittelbar
an Veränderungen. So war für das Internationale Kammermusikfest
Lübeck die Epoche 1871 bis 1918, die Kaiserzeit, bisher der
unverrückbare Rahmen für die Gestaltung der Programme.
Historische Stoffwechsel der Stile bieten da ein breites Spektrum,
vor allem, weil die künstlerische Direktorin, Evelinde Trenkner,
im ausgewogenen Mix etablierte und vernachlässigte Werke für
Klavier und/oder Kammerensembles berücksichtigt. Doch der Generationenwechsel
und das Repertoire der beteiligten Musiker fordern auch hier gelegentlich
Zugeständnisse, um die Attraktivität des Festivals zu
erhalten.
Junge Talente kamen zum
Zuge: Kontrabassistin Christine Felsch. Foto: Grünefeld
Die gelungene Überraschung am Himmelfahrtswochenende 2004
war der Auftritt von Babette Haag, die am Marimbaphon zunächst
ihr sublimes Arrangement der „Suite Nr. 4 für Solo-Cello“
von Johann Sebastian Bach vorstellte. Eine respektable Reminiszenz
an Pablo Casals‘ Premiere dieses Zyklus im Jahre 1904. Mit
der gezwirbelten „Tambourin Paraphrase“ von Keiko Abe,
dem lyrischen „Little Prayer“ von Evelyn Glennie und
den rasanten Perkussion-„Rebounds“ von Iannis Xenakis
beförderte Babette Haag das Kammermusikfest Lübeck dann
schlagfertig in die Gegenwart. Durch ihre fabelhafte Bühnenpräsenz,
selbstironisch moderiert, erreichte sie schnell die Sympathien des
Publikums, das mit den ungewohnten Klängen durchaus einverstanden
war.
Auch Christine Felsch zeigte mit ihrem Klavierpartner Jacques
Ammon jugendliche Dynamik beim „Konzert für Kontrabass
und Klavier“ von Giovanni Bottessini, eine Rarität artistischer
Schwierigkeiten, die sie geradezu elegant meisterte. Mikhail Zemtsov
(Viola) und Alexander Markovich (Klavier) hatten die selten zu hörende
„Sonate für Viola und Klavier“ von Rebecca Clarke
ausgesucht, eine straff gezurrte Komposition im Stil der klassischen
Moderne. Die britische Komponistin hatte dieses Werk 1918 bei einem
Wettbewerb eingereicht und, heute ein Kuriosum, nur wegen ihres
männlichen Pseudonyms Anthony Trent teilnehmen können
und den ersten Preis bekommen.
Beim Repertoire fürs Klavier blieb das Festival der selbst
markierten Ära treu, so wenn Mozarts „Sonate F-Dur“
vom Duo Sontraud Speidel/Evelinde Trenkner mit der Gaze der von
Edvard Grieg „frei hinzu komponierten Begleitung eines zweiten
Klaviers“ romantisch verfeinert wurde. Im Kontrast dazu die
leidenschaftliche, ja manchmal groteske Gestik, mit der Solist Alexander
Markovich die „Bilder einer Ausstellung“ von Modest
Mussorgsky betrachtete; dieses Musik-Epitaph wurde bei ihm zur Totenbeschwörung
des Alten Russland.
Das Bewusstsein für die Aktualität einer Epoche und
deren mögliche geistige Brücken zur Gegenwart versuchte
Moderator Hermann Boie zu vermitteln. Seine Hinweise auf musikhistorische
Zusammenhänge über Epochengrenzen hinaus waren wie Abwägungen
einer mäßig veränderten Programm-Balance, um dem
Internationalen Kammermusikfest Lübeck ein auch vom Publikum
akzeptiertes zeitgemäßes Profil zu geben.