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nmz-archiv
nmz 2004/09 | Seite 48
53. Jahrgang | September
Oper & Konzert
Belcanto in Montreux
Barbara Hendricks singt Porter, Rodgers, Ellington und Gershwin
Die Liebeslieder des Jazz sind keine Opernarien, sie besingen
nicht die hohe Liebe nobler Protagonisten. Sie sprechen dagegen
von den Liebesträumen der (afro-)amerikanischen Mittel- und
Unterschicht Anfang und Mitte des 20. Jahrhunderts. Von Liebe, die
den grauen Alltag in Büro, Fabrik oder auf dem Feld vergessen
machte. Aber auch von Liebe, die das Tageslicht scheut und im Dämmerlicht
von Varieté und Nachtclub gedeiht.
Diva ohne Allüren:
Barbara Hendricks. Foto: Sheila Rock/ EMI Classics
Wie stark die Macht dieser „Alltags“-Liebe ist, manifestiert
sich in der etwa 500 Titel umfassenden Standard-Sammlung „The
Real Book“. Das Repertoire dieses Songbooks spielt irgendwann
im Leben eines jeden Jazzmusikers eine wichtige Rolle. Welche Rolle
es für die klassische Sopranistin Barbara Hendricks spielte
und noch heute spielt, erfuhr man bei ihrem jüngsten Jazz-Project,
das sie auf dem Montreux Jazz Festival vorstellte.
Die Sopranistin hatte eigens ein Programm mit Titeln von Cole
Porter, Richard Rodgers, Duke Ellington und natürlich George
Gershwin konzipiert, mit dem sie die Kenner unter ihrem Publikum
im großen Saal des Casinos zu begeistern verstand und „Neulinge“
sowie Neugierige zu faszinieren wusste. „Bewitched“
(Rodgers), „Let’s Do It“ (Porter), „This
Can’t Be Love“ (Rodgers), „Night and Day“
(Porter) gestaltete sie wunderbar mit Belcanto und souliger Bruststimme.
Die Improvisationen überließ die Diva mit dem human touch
ihrer skandinavischen Begleit-Band, ohne deren Swing, Groove und
Sound die Songs der Opernsängerin doch nie wirklich wie Jazz
klingen würden. Die Melange aber macht`s und Barbara Hendricks
zeigt die Melodien des amerikanischen Songbooks im Licht von Opernbühne
und Liederabend: Sie glänzen, funkeln darin wie antike Kostbarkeiten.
Und sie gehen nach wie vor unter die Haut: Barbara Hendricks’
ergreifende Version von „Solitude“ (Ellington) muss
keinen Vergleich mit denen berühmter Jazzkolleginnen scheuen.
Dass Jazzsongs nicht nur von Liebe, sondern direkt oder indirekt
auch von Diskriminierung, Unterdrückung und sozialer Ungerechtigkeit
erzählen, das wird einem heute gewöhnlich in keinem Jazzkonzert
mehr deutlich. Jazz ist längst zur l’art pour l’art
geworden – oder zur Unterhaltung. Dass gerade einer klassisch
geschulten Sopranistin der Weg zurück zu den Wurzeln gelingt,
überrascht nur vordergründig. Wer die Vita der Hendricks
kennt, weiß, dass für sie Kunst und Leben, Musik und
Politik schon immer eins waren. Deshalb ist es für die politisch
engagierte Künstlerin nur folgerichtig, ab und an die Opernbühne
zu verlassen und „Summertime“, „We shall overcome“
oder das Gospel „Freedom“ so zu singen, dass einem klar
wird, um was es in dieser Musik geht – und im Leben.