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nmz-archiv
nmz 2004/09 | Seite 10
53. Jahrgang | September
Cluster
Erstickte Marktschreie
Es ist bald nicht mehr zum Aushalten: die Diskrepanz zwischen
Ankündigung und dem Ereignis. Überall! Bei der Olympiade
zum Beispiel wurde der 200 Meter Freistil Auftritt von Franziska
van Almsick zu einem Ereignis auf Leben und Tod hochgepuscht, zum
Wahnsinn des zu erreichenden Goldes (das mit Blick auf die Form
gar nicht realistisch war). Nur das Gold werde den Schwimmsport
des jungen und jüngsten Nachwuchses noch zu retten in der Lage
sein. Kurz vor Start erhöhte sich vermutlich der gesamtdeutsche
Durchschnittspuls auf das Doppelte. Und dann zwei Minuten, die wie
ein Gasballon mit Loch verpufften: ein existenzielles Sinnloch.
Nicht Franziska trifft die Schuld (überhaupt nicht!, sie zeigte
sich später sehr besonnen, dachte über ihr Leben nach,
über das Verhältnis von Weg und Ziel; die FAZ vermerkte
sogar eine Faszination des Scheiterns). Wohl aber trifft Schuld
die immer verzweifelteren Mechanismen des sensationslüsternen
Anpreisens.
Sind wir wirklich schon so geistig verarmt, so mit Brettern verbaut,
dass nur noch die vorhergesagte Sensation unsere Aufmerksamkeit
erregt? Auf allen Gebieten zählt nur noch dieser Kick: beim
Sport, in der Politik, bei der Kultur. Und das meist allzu schnelle
Zusammenbrechen des als „endkrasser Superevent“ Angekündigten
stellt eine stetige Wellenbewegung aus sich stauender Erwartung
und Verpuffungszonen her. Auf der Strecke bleibt das Ereignis selbst.
War es wirklich so eine glückliche Eingebung Wolfgang Wagners,
dass er den Versuch Christoph Schlingensiefs, sich dem Parsifal
zu stellen, als ein Ereignis ankündigen ließ, das Bayreuth
zum Brennen brächte. Schon letzte Pressekonferenzen vor der
Aufführung verneinten dann die Brandgefahr, doch wohl nur in
der Absicht, die Spannung weiter hochzuhalten (wenn nicht Feuer,
was dann?). Nach der Premiere tat sich wieder ein Loch auf. Wie
immer erstickten die Marktschreie. Wo war die Sensation hingekommen?
Was Schlingesief eigentlich tat und wollte entzog sich bei der angestrengten
Suche nach dem Knalleffekt dem Bewusstsein. Wir warten auf den nächsten
Hype auf unserer Berg- und Talfahrt enttäuschter Sensationen.
Und willig bleiben wir Betrogene.