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nmz-archiv
nmz 2004/09 | Seite 33
53. Jahrgang | September
Deutscher
Tonkünstler Verband
Die Ganztagsschule kommt
Hintergründe, Politik und Konsequenzen
Die PISA-Studie 2001 war für die Bildungspolitiker in Deutschland
ein Schock: die bundesdeutschen Schüler lagen mit ihren Leistungen
in Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften im Vergleich zum europäischen
Ausland nur im Mittelfeld. Das Bundesministerium für Bildung
und Forschung hat darauf das Programm „Zukunft Bildung“
mit dem Ziel ausgearbeitet, wieder in zehn Jahren die deutschen
Schüler mit ihren Lernkompetenzen an die Weltspitze zurückzubringen.
Die organisatorische Lösung wird in der Bildung von Ganztagsschulen
gesehen. Dafür stellt der „Bund“ bis 2007 vier
Milliarden Euro zur Verfügung, mit deren Hilfe traditionelle
Halbtagsschulen für Ganztagsschulen aufgerüstet werden
können. Ziel dieses Schultyps ist – unabhängig von
den erzieherischen, zeitlichen oder finanziellen Möglichkeiten
der Eltern – die adäquate Förderung einzelner Schüler
und Schülerinnen.
D och sind die Hintergründe, Ganztagsschulen einzuführen,
nicht nur in der „Schmach von von Pisa“1
zu suchen. Die Institution Ganztagsschule dient auch dazu, neuen
gesellschaftspolitischen Entwicklungen Rechnung zu tragen (ganztägige
Betreuung von Kindern alleinerziehender Mütter und Väter
oder beidseitig berufstätiger Eltern, die Nachwuchsförderung
für die deutsche Hightech-Wirtschaft und die Integration von
Migrantenkindern.2
Die flächendeckende Einführung der Ganztagsschule ist
politischer Wille, und in der ganzen Republik laufen dafür
Vorbereitungen.3 Die Musikerverbände haben sich
darauf besonnen und Vorbereitungen dafür getroffen, dass auch
in Zukunft das Fach Musik und der Instrumental- und Gesangsunterricht
in der sich wandelnden Schullandschaft eine Chance hat.4
Vom 20. bis zum 22. Mai 2004 veranstaltete der Deutsche Musikrat
(DMR) und der Verband der Schulmusiker (VdS) den internationalen
Kongress „Musik in der Ganztagsschule“ in Königstein
im Taunus5 und verabschiedeten ein Positionspapier, das
der Präsidentin der Ständigen Konferenz der Kultusminister
der Länder der Bundesrepublik Deutschland, Doris Ahnen, übergeben
wurde.6
Es gibt vor allem zwei Formen der Ganztagsschule, die gebundene
und die offene.7 Allgemein verpflichtet sich eine Ganztagsschule,
an mindestens vier Wochentagen über sieben Zeitstunden hinweg
Lern- und Freizeitangebote für ihre Schüler bereitzustellen.
Die gebundene Ganztagsschule beinhaltet vorwiegend: verpflichtender
Unterricht wird auf Vor- und Nachmittage verteilt; es gibt einen
obligatorischen Mittagstisch; die Hausaufgaben sind konzeptionell
eingebunden und die Freizeitangebote integriert; es werden darüber
hinaus Fördermaßnahmen für einzelne Schüler
oder Schülergruppen angeboten; Projektunterricht wird verstärkt
erteilt; Neigungskurse, Hobby- und Arbeitsgruppen werden überwiegend
nachmittags (teil-)obligatorisch unter Einbeziehung von außerschulischen
Fachkräften realisiert; neuentwickelte und modifizierte Unterrichtsfächer
sowie reformpädagogische Unterrichtssequenzen werden Bestandteil
des Schulkonzeptes.
Bei der offenen Ganztagsschule liegt der verpflichtende Unterricht
vorwiegend auf den Vormittagen: Es gibt einen freiwilligen Mittagstisch,
und eine freiwillige Hausaufgabenbetreuung findet unter professioneller
Aufsicht statt; an Nachmittagen stellt die Schule gebundene (obligatorische)
mit freiwilliger, aber dann verbindlicher Anmeldung oder ungebundene
(fakultative) Freizeitangebote bereit; verschiedene Fördermaßnahmen
(zum Beispiel Sprachen, Naturwissenschaften, Spitzenförderung)
sowie Neigungs- und Hobbykurse (zum Teil unter Einbeziehung der
Eltern und von Fachkräften) werden am Nachmittag offeriert;
neuentwickelte Unterrichtsfächer werden vor- oder nachmittags
angesiedelt.
Für Ganztagsschulen können recht unterschiedliche Themen
rund um die Musik infrage kommen, beispielsweise: Eine ganze Klasse
erlernt über einen bestimmten Zeitraum (ein bis zwei Jahre)
ein Instrument (= Großgruppenuntericht); zu einer festen Zeit
findet in der Schule Instrumentalunterricht eines Wahlinstrumentes
in Form des Kleingruppenunterrichts (zwei bis fünf Schüler)
statt; weiter können spezielle Spielkreise (zum Beispiel Blockflöten-
oder Streichquartett, Spielmannszug, Trommelgruppe), gemischte Ensembles
(zum Beispiel Rock- oder Folkgruppen, Tanzensembles) oder Schul-
und Musicalorchester gegründet werden; vor allem bietet die
Ganztagsschule für engagierte Fachkräfte die Gelegenheit,
eine (Rock-) Oper, ein Musical oder Ballett zu realisieren, also
Großprojekte, die eine lange Vorlaufzeit und das Zusammenspiel
unterschiedlicher Fachkräfte benötigen; auch können
in Ganztagsschulprojekten leichter Musik mit neuen Medien (Computern)
vernetzt und elektronische Musik (vor allem im Popbereich) kreiert
werden; oder Schüler können für die Bedienung einer
Soundanlage (speziell für Musiktheater und Schulfeste) ausgebildet
werden; schließlich besteht damit auch die Möglichkeit,
eigene Schulprojekte aufzuzeichnen und im kleinen Kreis zu vervielfältigen
(mittels CD, Film, DVD et cetera).
Mit der Einführung von Ganztagsschulen kommen auf die angestellten
und freiberuflichen Musikpädagogen und –pädagoginnen
eine Reihe von Problemen und Fragen zu, die hier kurz angerissen
werden können. Die Instrumental- und Gesangspädagogen
müssen mit ihren Arbeitszeiten flexibler umgehen. Einerseits
wird es schwieriger, wenn Schüler bis 16 oder 18 Uhr in der
Schule sind, einen geschlossenen Stundenplan zu bekommen. Andererseits
wird mit mehr Unterricht in den Abendstunden zu rechnen sein. Eine
weitere Befürchtung ist, dass das musikalische Niveau der Musikschüler
sinken könnte, weil weniger Zeit zum häuslichen Üben
bereitsteht oder die Lust, nach einem langen Schultag zu üben,
sinkt. Vielleicht wird der private Musiklehrer oder die örtliche
Musikschule seit Jahren benutzte Räume der Schule wieder zur
Verfügung stellen müssen, weil sie jetzt selbst einen
erhöhten Raumbedarf hat.
Auch steht die Frage der Qualitätsmaßstäbe im
Raum. Wer darf in der Ganztagsschule Musik unterrichten? Nur die
in Musik ausgebildete Fachkraft oder auch Laien? Wie steht es um
die ausbildungsgerechte Bezahlung? Sind die außerschulischen
Musiklehrer Betreuer oder Lehrer in Sachen Musik? Auch gibt es Verschiedenes
in der Raum- und Zeitorganisation zu berücksichtigen: Inwieweit
werden Bedürfnisse der außerschulischen Fachkräfte
von Schulleitungen wahrgenommen und in den Schulalltag integriert?
Werden außerschulische Musiklehrer in die Schulgremien eingebunden?
Inwiefern konkurriert der Musiklehrer mit der ehrenamtlichen Arbeit
verschiedener Vereine, die ebenfalls Ganztagsschulen Angebote unterbreiten
werden? Darüber hinaus wird noch abzusehen sein, ob Ganztagsschulen
einen (idealen) Rahmen für die Förderung von Schülern
mit besonderer musikalischer Begabung bilden.
Die Etablierung von Musikprojekten wird aus verschiedenen Gründen
seitens der Ganztagsschulen gerne gesehen. Einerseits können
hier Bevölkerungsschichten mit dem Thema Musik konfrontiert
werden, die von ihrer Sozialisation her kaum mit ihm in Berührung
kommen. Andererseits spricht man geradezu von einem „Mehrwert“
durch musikalische Bildung8: sie steigert die Erlebnis-
und Ausdrucksfähigkeit und trägt zu Sinn, Erfüllung,
Kommunikation und Lebensqualität bei, stellt Menschen in einen
Kulturzusammenhang und trägt zu Identifikation, Frieden und
Völkerverständigung bei. Sie entwickelt kognitive, emotionale
und soziale Schlüsselqualifikationen und befähigt zu Kreativität,
Lösungskompetenz und Teamfähigkeit. Doch Ziel des Musikberufes
ist in erster Linie die Vermittlung der Musik in ihrer ganzen Vielfältigkeit
selbst und ihre Weiterentwicklung, wir vermitteln also vor allem
instrumentale und sängerische Fähigkeiten, tradieren musikalische
Bildung, bilden Hörgewohnheiten aus oder vermitteln Musikgeschichte.
Erst in zweiter Linie werden die oben genannten, für die Gesellschaft
äußerst positiven und nachhaltigen „Begleiterscheinungen“
den Schülern mitgegeben. Doch sind auch Musiklehrer froh, wenn
Schüler diese außermusikalischen Fähigkeiten schon
„mitbringen“, denn dann fällt das Unterrichten
leichter.
Die Umwandlung der Schullandschaft wird allmählich stattfinden.
Auch werdende Ganztagsschulen müssen auf gewachsene Strukturen
aufbauen. Und will man sie mit Erfolg betreiben, ist auch klar,
daß dieser Schultyp teurer ist als die althergebrachte Halbtagsschule.
Um Musikschul- oder Privatmusiklehrern den Einstieg in die Ganztagsschule
zu erleichtern, findet vom 30. Oktober bis 1. November 2004 (Beginn
der Herbstferien in Baden-Württemberg) an der Bundesakademie
in Trossingen eine Fortbildung statt.
Patrick Tröster
Anmerkungen
1 Thomas Rauschenbach, Ganztagsschule
– eine riskante Chance. Das Gesamtgefüge von Familie
und Schule neu strukturieren, in: www.kulturrat.de/puk2004/puk03-04.pdf 2 Vgl. auch Hermann J. Kaiser, Musik in der Ganztagsschule.
Zwischen ökonomischer Funktionalisierung und Anglerverbund,
in www.ganztagsschulen.org/108.php und 131.php 3 In Deutschland gibt es schon lange Ganztagsschulen, doch
sind sie vor allem für bestimmte Schularten vorgesehen, oder
man findet sie an „sozialen Brennpunkten“. Ungefähr
ein Zehntel der bundesdeutschen Schüler besuchen eine Ganztagsschule.
Eine Liste der in Baden-Württemberg bereits bestehenden 175
Ganztagsschulen kann im Internet heruntergeladen werden: P:/ Abt3/Sta/Listen/GTS
Standorte 09-2003 (Kultusministerium, Standorte öffentlicher
Ganztags-schulen in Baden-Württemberg ohne Sonderschulen)
(Stand 15.9.2003). Eine Liste derjenigen Schulen, die einen Antrag
auf Ganztagsschule gestellt haben, existiert im Ministerium für
Kultus und Sport in Baden-Württemberg. 4 Bekannt sind bisweilen die Rahmenvereinbarung zwischen
dem Landesmusikrat Nordrhein-Westfalen, dem Landesverband Musikschulen
Nordrhein-Westfalen, dem Ministerium für Schule, Jugend und
Kinder, dem Ministerium für Städtebau und Wohnen, Kultur
und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen über die Zusammenarbeit
an offenen Ganztagsschulen (2003) oder die Rahmenvereinbarung
zwischen dem Landesverband Musikschulen Brandenburg e.V. und dem
Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg
(Dez. 2003) 5 Über den Verlauf dieses Kongresses wurde in der
neuen musikzeitung berichtet, siehe Nr. 7-8 (Juli/August) 2004,
S. 16,
Windmühlen bauen – für artgerechte Haltung. 6 Nachzulesen in: Musik in der Ganztagsschule – Positionspapier
des Deutschen Musikrates, veröffentlicht in der neuen musikzeitung
6 (Juni) 2004, S. 1 und 10. 7 Zur Förderung von Ganztagsschulen gibt es den bundesweit
organisierten Ganztagsschulverband GGT e.V., der wiederum in Landesverbände
organisiert ist; weitere Informationen sind beispielswiese unter
www.ganztagsschulverband.de/Landesverbaende/LandesvorstandBaden.html
zu erhalten. Nach Aussagen dieses Verbandes wünscht sich
jeder zweite Bundesbürger eine Ganztagsschule. 8 Vgl. hierzu: Musik bewegt, Berliner Appell zur Musikalischen
Bildung in Deutschland (Kongress des Deutschen Musikrates am 8.
September 2003).