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nmz-archiv
nmz 2004/09 | Seite 16
53. Jahrgang | September
Forum Musikpädagogik
Die drei großen B: Bach, Bohlen, Belafonte
Der Cellist Alban Gerhardt leistet musikalische Basisarbeit in
Schulen – Von Christoph Vratz
Die B 237 ist ein ziemlicher Schlauch und durchkräuselt das
Bergische Land. Rauf, runter und vor allem fiese Kurven. Links und
rechts sieht man vereinzelt Traktoren, die sich, Spielzeugen gleich,
in den Feldern verlieren. Dazu Wald. Überall ließe sich
anhalten, und nach ein paar Metern würde man von Einsamkeit
und Stille verschluckt.
Wer an der Welt Anteil nehmen möchte, muss morgens auf den
Silberberg. Klingt nach Karl May, meint aber ein Sträßchen
am Ortsrand von Wipperfürth mit wenigen Häusern und einer
dahinter liegenden Schule, dem Erzbischöflichen Gymnasium St.
Angela. Einige Schüler sind für die nächsten beiden
Stunden vom normalen Unterricht freigestellt; sie erwartet eine
kleine Sonderschicht im Fach Musik.
Alban Gerhardt: ein Künstler,
der nicht nur im Konzertsaal, sondern auch in der Schule
aktiv ist. Foto: Fadil Berisha
Für Alban Gerhardt, einen von Deutschlands Vorzeige-Cellisten,
genießen Besuche in Schulen inzwischen Sonderstatus; eine
geheime Passion, erwachsen aus Erfahrungen in Amerika. „Dort
machen die Konzert-Sponsoren es häufig zum Pflichtprogramm,
dass Künstler auch etwas für die Nachwuchsarbeit leisten
müssen.“ So ließ sich Gerhardt, anfangs eher skeptisch
und beinahe gelangweilt, auf die Fragen von New Yorker Schülern
ein. „Sie haben mir Löcher in den Bauch gefragt, wollten
alles wissen. Alles. Sogar welche Zahnpasta ich benutze.“
Diese ehrliche Neugierde habe ihn gefangen genommen. „Ich
erzählte von mir und was ich so mache. Mehr nicht. Aber alle
hörten zu. Da dachte ich: So einfach kann man Menschen, die
von Musik wenig oder null Ahnung haben, etwas von diesem Zauber
vermitteln?“ Seither ist Gerhardt entflammt. Wenn die Schule
ruft, ist er da.
Kaum hievt er den Cellokasten aus dem Auto, begleiten ihn erste
Blicke aus den Klassenfenstern, Getuschel und zaghafte verbale Vorstöße.
Ob er einen Schlachtplan habe? „Nein“, gibt Gerhardt
gelassen zu, „ich werde zunächst ein bisschen Cello spielen.
Dann soll man mir Fragen stellen.“ Ein didaktisches Konzept
mit Risiken. Dirk Schneider ist Musiklehrer an St. Angela und hat
für jeweils eine Unterrichtsstunde Schüler der Mittelstufenklassen
8 bis 10 gruppiert. Stunde eins: Gerhardt hat sich die ersten Minuten
gegen Dauergemurmel und Gekicher durchzusetzen.
Als er von einem Foto-Shooting mit Brian Adams erzählt, sind
alle Ohren auf und die Münder zu. Knappe Überleitung:
„Ich spiel’ euch jetzt ein bisschen Bach. Das Repertoire
für Cello solo ist nicht so groß, daher nimmt man meistens
Bach zum Aufwachen.“ Gerhardt gurgelt sich durch die ersten
Läufe des Kopfsatzes der sechsten Suite. Ein paar Takte nur,
dann bricht er ab. „Die Finger sind noch nicht fit. Klingt
’n bisschen müde, oder?“ Ratloses Schweigen. Er
probiert noch mal. Am Ende müder Beifall und Schweigen. „Ihr
müsst mir schon Fragen stellen. Ich weiß nicht, was ich
Euch sonst erzählen soll.“ Umkehrung des klassischen
Unterrichtmodells. Nicht der Lehrer bohrt, sondern die Schüler.
„Spielen Sie noch ein anderes Instrument?“ Gerhardt
erzählt von seinen beschwerlichen Klavierexerzitien, schweift
zurück in seine Jugend, der erste Musikunterricht. „Ist
Cello spielen schwer?“ – „Tja, man muss halt die
Töne mühsam suchen; aber beim Cello ist das etwas einfacher
als bei der Geige. Spielt hier jemand Geige?“ Niemand. „Aber
ihr kennt diese Haltung? Ein bisschen krüppelmäßig,
so weit nach vorne gebeugt.“ Gerhardt imitiert, karikiert,
erntet Lachen. Das Eis schmilzt.
Musikalisch gesehen, herrscht im Oberbergischen vornehmlich der
Geist der Brache, ideale Voraussetzung also für Basisarbeit.
Werner Mainz, Schulleiter von St. Angela, betont, wie schwierig
es abseits der Großstädte ist, das Feld der Musik zu
bestellen. „Hier im Umkreis gibt es kein Theater, keine Konzerthalle;
die nächste Stadt mit kultureller Infrastruktur ist Köln.
Die größeren Schüler, mobil und mit Papas Auto unterwegs,
fahren natürlich am Wochenende hin, aber dann wegen des Kinos.“
Musikunterricht, so viel ist klar, kann nur in begrenzten Bahnen
auffangen, woran es fehlt: an Berührungspunkten. „Aktionen
wie diese sind für uns der einzige Weg, Schülern klassische
Musik näher zu bringen.“ Dirk Schneider klagt, dass das
alte Sockelbild vom hehren Kunstwerk, auch Jahrzehnte nach Adorno,
immer noch in den Köpfen präsent sei.
Aber die Hemmnisse sind nicht nur der regional bedingte Mangel
an CD-Läden oder die Nischenpräsenz der Klassik im Internet.
Auch in den Städten liegt die (Des-)Interessenslage ähnlich.
Anderes Bewusstsein schaffen
Schuld daran trägt vor allem die hartnäckige Lethargie
der Verantwortlichen: Künstler, Plattenfirmen, Agenten. „Da
wurde in der Vergangenheit eine Menge verschlafen“, meint
Gerhardt. Erst allmählich haben sich auch die kommunalen Orchester
ins Stammbuch schreiben lassen, dass Kooperationen mit Schulen Sinn
machen.“ Gerhardt, der Solist, weiß, dass auch abseits
des Podiums solistischer Einsatz gefragt ist. „Ich kann nicht
beurteilen, ob ich ein anderes Bewusstsein schaffen kann, aber ich
bin überzeugt, etwas von diesen Mauern einreißen zu können,
die zwischen uns Künstlern und vielen Jugendlichen stehen.
Das funktioniert, wenn ich unverkrampft und ohne Dünkel über
mich, meine Musik und das Musikleben spreche.“ Und Vater Staat?
Darf der mehr in die Pflicht genommen werden? „Sehe ich nicht
so. Durch die – trotz aller Einsparungen – immer noch
üppigen Subventionen wird er seinem Auftrag durchaus gerecht.“
Gerhardt nimmt eher die Kollegen und Musikmacher in die Pflicht.
Mit Arroganz – „Für so was wie Schulbesuche bin
ich mir zu schade“ – ließen sich die Probleme
nicht lösen. Zu warten, dass der Staat in die Bresche springe,
sei nur ein Zeichen deutscher Bequemlichkeit. „Deswegen stehe
ich dem Subventionswesen eher kritisch gegenüber. In Amerika,
wo der staatliche Etat für Musik ungefähr so groß
ist wie der der Deutschen Staatsoper, hat man von privater Hand
und vor allem von Seiten der Wirtschaft begonnen, das Heft selbst
in die Hand zu nehmen. Das wird dann auch vom Publikum besser mitgetragen.
Wenn ein Orchester X von mehreren Spendengebern unterstützt
wird, identifizieren sich auch mehr Menschen damit.“
Die zweite Stunde eröffnet Alban Gerhardt mit Kodály.
Mehr als eine bloße Schwungdemonstration. Für einige
jedoch wirken die gejaulten Läufe komisch.
Andere mimen den Coolen, palavern, nesteln am Handy. Kaum hat Gerhardt
den Bogen zur Seite gelegt, stellt ein Neuntklässler die Gretchenfrage:
„Warum kommen Sie eigentlich hierher und spielen für
uns?“ Gerhardt berichtet von New York, von Schülern,
denen er den Aufbau des Cellos erklären musste. „Alle
haben sich entsetzlich gelangweilt. Auf einmal aber wurden sie munter.
Einer wollte wissen, warum ich überhaupt Cello spiele. Na,
um Geld zu verdienen. Aber nachher dachte ich: Dahinter steckt doch
weit mehr, Du hast der Musik so viel zu verdanken – und das
willst Du auch anderen vermitteln.“ Die nächste Frage
handelt von Dieter Bohlen. Gerhardt grinst und spricht vom Phänomen
der Verblödung. Listiger Themenwechsel: Ob er alles vom Blatt
spielen könne, will einer wissen. „Eigentlich schon.“
– „Dann spielen Sie das mal. Ist der Bananaboat-Song.“
Ein Blatt wird durchgereicht, und Gerhardt spielt Harry Belafonte.
Das macht Eindruck.
Erfolg der kleinen Schritte
Am Ende der Stunde zupfen Jessica und Christina ihre Taschen zurecht
und wollen verschwinden. Hat Euch das was gebracht? „Ja.“
Was? „Man lernt mehr über Musik.“ „Jetzt
weiß ich, wie die Leute den Tag verbringen, dass sie viel
reisen und lange ausschlafen können – aber auch viel
üben müssen“, ergänzt Jessica. „Aber
man lernt viele neue Menschen kennen.“ Sogar mal ins Konzert
zu gehen könnten sie sich vorstellen. Der Erfolg der kleinen
Schritte.
Für Alban Gerhardt sind diese Erfahrungen umso wichtiger,
als sie zeigen, dass mit Annäherungen wie billigem Crossover
nichts gewonnen ist. „Das ist wie eine Bankrotterklärung
der Klassik. Diese Programme, aus denen der verzweifelte Versuch
zur ultimativen Rettung spricht, sind furchtbar.“ An ihnen
klebe nicht zuletzt auch ein gewisser Kulturdünkel. „Da
werden Bröckchen hingeworfen nach dem Motto: Hier, wir verstehen
auch etwas davon.“ Wichtiger als solche Halbherzigkeiten,
und Erfolg versprechender, sei der direkte Kontakt zu Menschen,
wie er sich durch eine CD niemals einstellt. „Wenn ich im
Konzertsaal Zugaben ansage, merke ich schon nach wenigen Worten,
wie Mauern eingerissen werden; die Menschen reagieren auf einmal
freier, gelöster, fangen an zu lachen.“ Ähnliches
wolle er auch mit seinen Schulbesuchen erreichen. Der heilige Moment
ist, wenn „die Aura des Hörers und die des Künstlers
anfangen sich zu vermischen“. Dabei sei der Ort völlig
egal, ob in der Philharmonie oder im Klassenzimmer. Während
der Rückfahrt über die B 237 erinnert sich Gerhardt an
seine eigene Schulzeit. Bach, Brandenburgische Konzerte. „Das
haben wir in frühen Jahren durchgekaut bis zum Geht-nicht-mehr.
Die Folge: Noch heute habe ich damit meine Schwierigkeiten.“
Sollte man’s mit Neuer Musik versuchen? „Warum nicht
mit ‚Sacre’? Das ist erstens moderner und zweitens erzählt
es eine Geschichte.“ Vielleicht ist die Kunst des Erzählens
ja auch der Schlüssel zur Kunst des Hörens. Das gilt selbst
in einer Gegend, wo überall Einsamkeit, Stille und Traktoren
lauern. Und es gilt „auf dem Silberberg“.