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nmz-archiv
nmz 2004/09 | Seite 5
53. Jahrgang | September
Gegengift
Alles Pareto
Es gibt die offensichtlichen Lügner: etwa George Bush den
Älteren, der seinerzeit einen Wahlbetrug mit einem ans Archaische
appellierenden Verweis auf seinen Lippen, die nicht trügen
könnten, verband: „Read My Lips!“ (er wurde abgewählt).
Es gibt die unschönen Lügen: etwa wenn bei der Gesundheitsreform
die „demographische Entwicklung“ und der „wissenschaftliche
Fortschritt“ dafür herhalten müssen, die Betriebe
auf Kosten der Privaten, die Reichen auf Kosten der Armen und die
Gesunden auf Kosten der Kranken zu entlasten (das führt zu
Verbitterung).
Es gibt die perspektivischen Wahrheiten, die fatalerweise dazu
führen, dass die „anderen“ sie nicht teilen können
und zu Feinden werden müssen. Auf dem Balkan etwa, vielleicht
auch zwischen „dem Westen“ und den islamischen Ländern
wird der Krieg weitergehen, es sei denn man findet zu einer gemeinsamen
Erzählung, in der alle mit ihren Erfahrungen und Interessen
vorkommen.
Und es gibt die Moral, man könnte auch sagen: die maskierte
Lüge. Die Allzweckwaffe bei der möglichst rücksichtslosen
Durchsetzung der eigenen Position. Demokratische Gesellschaften
mit ihrem multimedialen Dauer-Brainstorming sind da gegenüber
autoritären und diktatorischen im Vorteil: das zeigen die Erfolge
der „Menschenrechts“-Waffe gegen diverse „Reiche
des Bösen“.
Nirgends ist der Triumph des Guten aber so tückisch und schlüpfrig
wie dort, wo die meisten Spezialisten des schönen Scheins am
Werk sind: Im Bereich der Kultur. Immer dann, wenn diese „Kultur“
zur Einkommensquelle (möglichst auf Dauer!) wird.
Im Grunde ist die Sache klar: jedes soziale System kennt einen
Zustand höchster Einkommens- und Verteilungseffizienz; man
nennt ihn nach dem italienischen Soziologie-Klassiker Vilfredo Pareto
„pareto-optimal“. Ist ein solcher pareto-optimaler Zustand
erreicht, dann kann ein Einzelner (oder eine Gruppe) nur noch besser
gestellt werden, wenn man einen anderen Einzelnen (eine andere Gruppe)
schlechter stellt. Der coole Pareto beschreibt ziemlich genau den
Kampf um die Fleischtöpfe, jedenfalls wenn sie notorisch knapp
sind. Und er sagt klar und unverblümt, was „Sache“
ist: dass wir alle zusammen ein Interesse haben (oder jedenfalls
haben können), einen pareto-optimalen Zustand zu erreichen;
dass es aber in einem pareto-optimalen Zustand keine gemeinsamen
Interessen geben kann.
Merkwürdigerweise wird es genau dann besonders „moralisch“,
wenn es nichts mehr zu verteilen gibt. Sind die „Kulturkämpfer“
so kindisch-unwissend, so egoman oder so tückisch, dass sie
die Bedienung des eigenen Interesses auf Kosten der Interessen anderer
für eine Sache der Moral halten? Ja, der Haifisch, der hat
Zähne und die trägt er im Gesicht; alle können sie
sehen, niemand macht sich Illusionen. Die Moral aber ist hinterhältig;
sie veranstaltet ihre Blutbäder im Schutz von Bündnissen,
Netzwerken und universalistischen Diskursen.