[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2004/09 | Seite 9
53. Jahrgang | September
Kulturpolitik
Aus für die Neue Musik im Norden?
Niedersachsen will acht Millionen Euro in der freien Kulturpflege
streichen
Niedersachsen macht in jüngster Zeit verstärkt von sich
reden: Rechtschreibreform, Kündigungsschutz, Blindengeld, Abschaffung
der Bezirksregierungen oder das drastische Einsparprogramm, unter
anderem mit massiven Kürzungen der freien Kulturpflege. Nicht
von ungefähr entsteht bei mehreren dieser Themen der Eindruck,
die neue CDU/FDP-Landesregierung übernähme hier stellvertretend
für andere Bundesländer eine Vorreiterrolle. Die Erfahrungen
dieses Prototyps von Kulturförderung (Vorgehensweise, Hindernisse,
Ergebnisse) werden – so die weitverbreitete Befürchtung
– dann von den anderen Bundesländern übernommen.
Deswegen ist gerade im Bereich der Neuen Musik und allgemein der
Gegenwartskünste diese Entwicklung aufmerksam zu beobachten.
Damit nicht der Eindruck billiger Parteienpolemik wie in den TV-Debatten
entsteht, sei darauf hingewiesen, dass ein Teil des niedersächsischen
Dilemmas das Verdienst Gerhard Schröders ist. Die Sanierung
und Aufwertung der Landeshauptstadt Hannover mittels EXPO 2000 bildet
einen erheblichen Teil der Schuldenlast des Landes. Inzwischen dürfte
allgemein bekannt sein, dass die öffentliche Hand weniger Einnahmen
hat, als sie für ihre Aufgaben braucht. Deswegen wird die Ausgabenseite
neu definiert. Um die Einnahmenseite bemüht sich scheinbar
keiner gern, entgegen dem privaten Verhalten vieler Größen
unserer Gesellschaft. Aber weniger Geld beim Staat ist da –
Faktum. Eine vertretbare Einnahmequelle, mit ehrlicher Öffentlichkeitsarbeit
machbar, kann die Einführung eines „KULTUR-EUROS“
pro Einwohner sein – der Erlös entspräche in Niedersachsen
ziemlich exakt dem angestrebten Einsparziel. Niedersachsen teilt
sich in vier Regierungsbezirke: Braunschweig (8.099,1 qkm), Hannover
(9.046,9 qkm), Lüneburg (15.506,5 qkm) und Weser-Ems (14.965,5
qkm) – laut Internet mit folgenden Bevölkerungszahlen:
Weser-Ems 2.455.036, Hannover 2.167.876, Lüneburg 1.692.192
und Braunschweig mit 1.665.368 Einwohnern. Diese Zahlen untermauern
den Begriff Flächenland des zweitgrößten Bundeslandes
und stellen gewiss auch eine Vorgabe an die Politik dar. Wie in
vielen Bundesländern greift aber der Zentralismus um sich –
gleich welche Partei, welche ihrer Personen, Macht ausübt.
Ob nun unter Albrecht und Schröder Hannover aufgebläht
wurde oder unter Gabriel (schon in damaligen Sparzwängen) eine
neue Hochschule nach Goslar kommen sollte und sich heute Osnabrück,
Wohnort des amtierenden Ministerpräsidenten, glücklich
über den einen oder anderen Sonderzuschlag freuen darf –
das sind nur einige Auswüchse oder „Leuchttürme“
einer fragwürdigen Landespolitik. Zugegeben: Zentralismus ist
keine niedersächsische Macke, aber hier sehr folgenreich etwa
im Streit um Arbeitsplätze, Landesmittel, Sitz von Landesämtern,
EU-Förderungen. Und in einem Flächenland besonders problematisch:
Die Landesmuseen und Staatsorchester sind ob ihrer Verträge
fein raus, denn eingespart werden soll dieser horrende Betrag bei
den freiwilligen Leistungen des Landes, der freien Kulturpflege.
Welche Lösungsmöglichkeiten ergeben sich, von verantwortungsbewussten
Entscheidungsträgern ausgehend? Was meint, Folgen von Entscheidungen
voraus zu sehen und zu berücksichtigen? Und was heißt
das alles für die Neue Musik, vor allem wenn wir die Niedersachsen
zugewiesene Prototyp-Rolle nicht vergessen?
Gemeinhin spielt sich die Neue Musik nicht in den großen
Häusern und/oder in den staatlichen Einrichtungen ab (wird
sie von diesen nicht eher ferngehalten?), sondern überwiegend
in freier Trägerschaft und in kommunaler. Viel Ehrenamt (so
vehement von der Politik gefordert) in Vereinen, kleine Einrichtungen
– ein paar „Verrückter“ pro Ort – und
sehr sensible Strukturen prägen das Landschaftsbild der Neuen
Musik. So gibt es in Niedersachsen nur drei Ensembles für Neue
Musik und über das Land verstreut einige wenige Veranstalter.
Musiker arbeiten bei mehreren „Arbeitgebern“, Komponisten
haben kaum Möglichkeiten der Aufführung. So sieht das
von der neuen Landesregierung versprochene „Musikland Niedersachsen“
aus, und die Landesförderung der Musik (darin dürfte sich
die Neue Musik verschwindend gering wiederfinden) ist in den vergangenen
zwölf Jahren (von 1990 bis 2002 SPD-regiert) um 3,5 Prozent
auf 4,95 Millionen Euro in 2003 zurückgefahren worden, entgegen
den Zuwächsen bei Theater (plus 72%, Soziokultur plus 161%
und Museen plus 39%) [Zahlen des Landesmusikrates Niedersachsen].
Das Land gibt 240 Millionen Euro für Kultur aus, davon rund
14 Millionen Euro (etwas über fünf Prozent) für freie
Träger, davon sind fünf Millionen Euro durch vertragliche
Zusicherung allerdings nicht frei, und von noch verbleibenden neun
Millionen sollen acht Millionen Euro eingespart werden.
Wie in einem Ökosystem lösen kleinste Eingriffe kaum
übersehbare Folgen aus. Was mit ein, zwei Handgriffen zerschlagen
wird, braucht eine, eher zwei Generationen, um Gleichwertiges wieder
herzustellen. Der Zwang der Politik an die Veranstalter, Drittmittel
zu akquirieren, besteht seit Jahren. Wie aufwendig und kompliziert
das im Bereich aktueller Künste ist, der aus vielen Gründen
wenig Publikum anspricht, somit für Geldgeber (inzwischen auch
für Stiftungen) kaum interessant ist, scheint der Politik nicht
klar zu sein. Viele Veranstaltungen staatlicher Häuser ließen
sich auf dem freien Markt unterbringen – mit zeitgenössischer
Kunst kann das aber nicht gehen. Diese Erkenntnis ist mit der oben
angeführten Verantwortungskompetenz gemeint und sollte Grundlage
von Entscheidungen sein.
Natürlich sind die Kommunen nie in der Lage, die fehlenden
Mittel zu kompensieren. Sie waren in den zurückliegenden Jahren
selbst gezwungen, Einsparungen vorzunehmen, oft aber mit Bedacht,
vielleicht weil kommunal mehr Sachverstand vorhanden ist, vielleicht
aber auch, weil die Verbindungen zu den „Opfern“ der
Entscheidungen direkter war. Stiftungen werden diesen Aderlass ebenfalls
nicht auffangen können und auch nicht wollen, ist doch der
Zug zu eigenen Projekten immer stärker wahrnehmbar, also selbst
in diesen Häusern ist der zu verteilende Kuchen durch geringere
Zinseinnahmen und die Eigenprojekte bereits kleiner geworden. Dass
das Wort „Kunst“ im Nebel des Begriffes „Kultur“
bereits untergegangen ist, erleichtert eben nicht das Verständnis
auf der Seite der Geldgeber.
Der Staat darf aus seiner Verantwortung für die Künste
nicht entlassen werden. Kunst kann per se keine Massen ansprechen
– Ausnahmen bestätigen die Regel –, sie kann somit
auf dem freien Markt nicht bestehen. Besonders gibt zu denken, wie
gering der Betrag der öffentlichen Hand für Gegenwartskunst
ist, im Verhältnis zu der Förderung musealer Kunst (Museen,
Orchester, Archive et cetera). Um Missverständnisse zu vermeiden,
folgt keine Aufforderung à la Pierre Boulez – „sprengt
die Opernhäuser in die Luft“; denn es wäre schade,
auf diese Instrumente verzichten zu müssen. Aber ihr Bestand
darf nicht Verzicht auf Gegenwartskunst bedeuten. Selbst der rein
wirtschaftliche Schaden der Sparentscheidung ist unökonomisch,
werden doch mit den öffentlichen Mitteln Aufträge ins
Land gegeben, Beschäftigung und Konsum sind die Folge.
Die Argumente für den zu erwartenden Schaden sind aufzulisten,
um deutlich zu machen, dass diese Kürzung mehr als kontraproduktiv
ist, langfristig sogar teurer. Ein Aufrechterhalten der Gegenwartskünste
notfalls durch Neuverschuldung ist sinnvoll und volkswirtschaftlich
oder gesellschaftlich kostenneutraler als das Zerschlagen des Wenigen,
was es in Niedersachsen gibt. Eine Alternative bestünde in
Einsparungen der institutionellen Einrichtungen für eine befristete
Zeit, quasi ein Sabbatjahr für staatliche Institutionen (Museen,
Theater, Orchester, Archive et cetera). Es lassen sich Modelle entwickeln
(Verzicht auf Sonderausstellungen und Anschaffungen, Verschiebung
von Bauvorhaben besonders Neubauten, Beschäftigung mit Tarifverträgen
et cetera), die Mittel für andere Bereiche produzieren, ohne
diese Einrichtungen im Bestand zu gefährden. Wird keine Alternative
gefunden, wird beispielsweise in der Neuen Musik ein dramatischer
Kahlschlag eintreten, weil diese Einrichtungen immer von der kurzfristigen
Projektförderung abhängen. Werden dafür keine Mittel
zur Verfügung gestellt, wird es diese Einrichtungen auch nicht
mehr geben. Gleiches gilt für viele Kunstvereine, freie Theatergruppen,
Alte Musik oder Chöre. Nicht mehr wählen oder anders wählen
hilft zeitnah nicht. Gefragt sind konkrete und derart gut begründete
Alternativvorschläge, dass sich die Verantwortlichen diesen
Argumenten nicht entziehen können.